Interview mit Karl Kardinal Lehmann "Rassisten sind für Christen unwählbar"

Köln · Der Mainzer Bischof wird am 16. Mai 80 Jahre alt. Was ihn umtreibt, ist der schwierige Dialog mit dem Islam und das Erstarken der AfD.

 Karl Kardinal Lehmann sprach mit unserer Redaktion.

Karl Kardinal Lehmann sprach mit unserer Redaktion.

Foto: dpa, Fredrik von Erichsen

An dieser Papst-Entscheidung wird es keinen Zweifel geben: dass er am 16. Mai das Rücktrittsgesuch von Karl Kardinal Lehmann annehmen wird, der an diesem Tag seinen 80. Geburtstag feiert. Fasst 33 Jahre leitete er das Bistum und 21 Jahre die Deutsche Bischofskonferenz. Doch Lehmann — einer der profiliertesten deutschen Kirchenvertreter — schaut weniger zurück, sondern sorgt sich auch um Gegenwart und Zukunft.

Was war Ihr schönster Erfolg?

Lehmann Na ja, ich erinnere mich noch gern an den Katholikentag 1998 hier in Mainz. Damals haben wir 150 Jahre Deutscher Katholikentag gefeiert. Natürlich gehören auch die beiden Papstwahlen, an denen ich teilnehmen konnte, dazu. Dennoch: Am meisten freue ich mich darüber, dass wir jedes Jahr im Bistum mindestens eine Priesterweihe machen können. Im vergangenen Jahr waren es sogar vier, und in diesem Jahr werden es wieder vier sein. Das ist für mich eine ganz wichtige Erfahrung, dass junge Leute nach wie vor zum Weiheamt bereit sind. Das zeigt mir immer wieder: Die Kirche ist jung und die Kirche lebt. Für mich sind das bedeutsamere Höhepunkte als irgendwelche große Feiern. Ein ganz besonderer Höhepunkt ist die deutsche Einheit 1989/90. Auch 1000 Jahre Mainzer Dom darf nicht vergessen werden.

Und die größte Niederlage?

Lehmann Dazu gehört gewiss der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester, wobei wir in unserem Bistum glücklicherweise nicht so viele Fälle hatten. Aber auch die Limburg-Affäre vor drei Jahren gehört dazu. Die Zahl der Kirchenaustritte war im Bistum Mainz bis dahin auf jährlich etwa 3000 runtergegangen, und dann ging es mit der Affäre um Tebartz-van Elst wieder rauf bis über 8000. Ich habe den Eindruck, dass man sich in Rom bis heute über die Auswirkungen dieses Falls nicht ausreichend im Klaren ist. Auch darüber, welches Klima dadurch in Deutschland entstand. Manche warten ja auf solche Enthüllungen.

Ist der Umgang mit Flüchtlingen auch ein Gradmesser unserer Gesellschaft dafür, dass wir nicht nur funktionieren und pragmatische Lösungen finden können, sondern auch christlich und fähig zu Anteilnahme und Nächstenliebe sind?

Lehmann Es gibt in unserer Gesellschaft ein verborgenes, gewissermaßen — um mit Karl Rahner zu sprechen — anonymes Christentum. Das wirkt sehr oft im Stillen und wird jetzt im Umgang mit den Flüchtlingen teilweise wieder öffentlich. Das erlebe ich ganz konkret in vielen Einzelfällen, wie etwa bei einer Familienmutter, die ohne zu zögern zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei sich aufnimmt und in ihre Familie integriert. Freilich, das sind sehr gläubige Leute.

Ist dieses Engagement für Flüchtlinge manchmal nicht auch ein fauler Frieden in unserer Gesellschaft?

Lehmann Es kann manchmal durchaus ein fauler Friede sein oder werden. Die Zuwanderung der vielen Flüchtlinge nutzen jetzt auch manche Menschen, die früher schon ganz bewusst gesagt haben, dass der Islam zu Deutschland gehört und eine entsprechende Berücksichtigung finden muss, um die Stellung der großen christlichen Kirchen im Blick auf ihr Gewicht, ihre Rechte und ihr Ansehen bei uns herabzusetzen. Für uns aber ist das zugleich eine Chance, aufzuwachen und unser Selbstbewusstsein wieder zu stärken. Dazu brauchen wir einen neuen Mut.

Sind die Kirchen demnach zu leise oder zu sehr mit selbst beschäftigt gewesen?

Lehmann Das Zweite Vatikanische Konzil ist jetzt gut 50 Jahr her; diese Zeit haben wir genutzt, um Toleranz und Religionsfreiheit konkret zu leben und den Dialog der Religionen auf vielen Ebenen zu führen. Ich glaube aber, dass wir lange zu zögerlich gewesen sind, den Wahrheitsanspruch auch unseres Glaubens zu betonen und herauszustellen. Darin scheint mir auch ein minimales Recht der Traditionalistenbewegung zu liegen, genau darauf aufmerksam zu machen. Es ist die berechtigte Kritik an einem nur noch platten Religionsbegriff, der oft vom Ethos abgespalten ist und als Devise vor sich herträgt, dass jeder nach seiner eigenen "Façon" selig werden soll. Wir haben es tatsächlich versäumt zu markieren, dass wir in Glaubensfragen eine eigene Position haben, die nicht einfach mit einem allgemeinen Liberalismus verrechnet werden kann. Bei aller eingeübten Toleranz, wünsche ich mir, dass wir Christen bei aller praktizierten Religionsfreiheit und Offenheit klarer und profilierter reden und handeln.

Wird das auch zunehmend notwendiger vor dem Hintergrund, dass sich mit den Flüchtlingen auch die Kräfteverhältnisse der Religionen in Deutschland verschieben könnten?

Lehmann Wir werden nicht damit rechnen können, dass der Zustrom von Flüchtlingen in naher oder mittlerer Zukunft schlagartig zu Ende sein wird. Die Leute finden auch künftig die Wege zu uns. Und das stellt uns vor neue und schwierige Fragen, wie wir mit dem Islam umgehen. Man wird auch stärker bedenken müssen, wie viele von denen, die jetzt zu uns kommen, Christen sind. Manche sagen: rund 20 Prozent. Aber manche Flüchtlinge bekennen sich zum Christentum und lassen sich taufen auch nur in der Hoffnung, besser behandelt zu werden?

Welche Probleme oder Aufgaben sehen Sie für die christlichen Kirchen, wenn der Islam stärker wird?

Lehmann Es ist uns nicht gelungen, sich ausreichend der Vielgestaltigkeit des Islam bewusst zu werden. Ich denke nur an Sunniten und Schiiten, Aleviten oder etwa an Boko Haram. Wie gehen wir beispielsweise mit den unbestreitbaren Gewaltaussagen im Koran um? Wenn wir ehrlich sind, stehen wir mit relativ wenigen Muslimen im Dialog. Und das sind dann oft die immer gleichen Vertreter vor allem von Verbänden, von denen wir nicht einmal wissen, wie groß ihr Rückhalt ist und wie viele Muslime sie wirklich vertreten. Der Islam bietet eben keinen größeren konkreten Ansprechpartner aus der Religion selbst. Für die gesellschaftliche Integration ist dies ein großer Mangel.

Eine andere neue, politische Kraft setzt auf Konfrontation mit dem Islam, die "Alternative für Deutschland". Wie sollte sich die katholische Kirche zur AfD verhalten?

Lehmann Wir haben bei den vergangenen Landtagswahlen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein Wort zur Wahl herausgegeben. Darin haben wir vor dem Wiedererstarken eines nationalistischen Bewusstseins sehr gewarnt. Mit wenig Erfolg, wie man an den Wahlergebnissen sieht. Ich habe den Eindruck, dass wir da noch viel aktiver sein müssen. Wenn man in meinem Alter und 1936 geboren ist, hat man noch einiges von der Verführbarkeit der Menschen in Erinnerung. Und es will einem nicht ganz so klar werden, warum damals in Deutschland so viele auf diese Schreier-Reden der Nazis hereingefallen sind. Als kleiner Bub habe ich die fanatische Stimme Hitlers im Radio bis heute im Ohr. Und jetzt frage ich mich, ob es wirklich so sicher ist, dass ähnliche Dinge nicht mehr wiederkehren können.

Ihre Sorge gilt der Popularisierung einer extrem rechten Bewegung hierzulande?

Lehmann Meine Sorge umkreist eher die Frage, warum eigentlich die Idee eines vereinten und friedlichen Europas so schwächelt. Dieses Europa ist das Ende einer jahrhundertealten Selbstzerfleischung. Auch aus diesem Grund bin ich so froh, dass zu meiner Verabschiedung der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, nach Mainz kommen und reden wird. Damit wir nicht nur über uns sprechen, sondern über die Zukunft des vereinten Europa. Was mich bei allen aktuellen Problemen in Europa auch stört, ist unsere Arroganz gegenüber Ländern wie Ungarn oder Polen. Wissen Sie, wir Deutschen haben viel Zeit gehabt, uns nach Westen zu öffnen und Neues, ja Fremdes zu lernen. Etwas mehr Zeit sollten wir diesen Ländern nun auch einräumen. Doch viele wollen gewiss auch nur Profit aus der Europäischen Union schlagen und verstehen nicht das Wesen dieser Solidargemeinschaft. Ich sehe mehr denn je die Gefahr, dass etwas, das über 50 Jahre relativ gut gehalten und sich bewährt hat, jetzt einfach ganz kraftlos werden könnte. Eine große Hoffnung gerade meiner Generation ist in Gefahr.

Muss die Kirche auch politisch ihre Stimme viel vernehmlicher erheben und auch junge Leute zu erreichen versuchen?

Lehmann In der heutigen Jugend hat die politische Meinungsbildung stark nachgelassen. Es fehlt vor allem an der Bereitschaft, in Parteien aktiv mitzuarbeiten. Aber es gibt noch andere Probleme. Heute müssen wir ernsthaft damit rechnen, dass auch in anderen Parteien — etwa bei den Grünen — viele Christen sind. Ich habe in den 60/70er Jahren erlebt, wie die SPD und die FDP alten ideologischen Ballast abgeworfen haben. Dies hat die CDU/CSU — wohl zu Unrecht — geschwächt. Der entstandene politische Pluralismus ist noch nicht genügend verkraftet.

Wie konkret darf oder muss die Kirche auch im politischen Raum auftreten — etwa zur Frage: Dürfen Christen die AfD wählen?

Lehmann Wir schreiben keine Hirtenbriefe mehr, um die Katholiken zu belehren, was sie wählen dürfen. Aber wenn auch alles mehr auf das einzelne Gewissen ankommt, ist dennoch nicht alles erlaubt. Die AfD ist noch ein sehr spannungsvolles, ja widersprüchliches Phänomen. Es ist eine Partei im Gärungszustand. Was Leute auch übereinander sagen, erscheint mir wie in einer ziemlich unreifen Pubertätsphase. Ich bin auf das Parteiprogramm, das diskutiert wird, gespannt. Der Anti-Islam-Kurs ist noch unklar. Eine Partei, die so widersprüchlich auftritt, empfiehlt sich nicht. Man muss deshalb auf die einzelnen Mitglieder und auf die Verantwortlichen schauen. Wer jedenfalls einen blanken Rassismus sowie einen antiquierten Nationalismus in unserer heutigen Welt vertritt, der ist für mich als Christ nicht wählbar. Da kann es keine Kompromisse geben. Wir haben uns schon einmal bitterböse getäuscht und dabei weltweit viel Unheil angerichtet. Leute, die dies alles nicht deutlich sehen und entschieden diese Vergangenheit verharmlosen wollen — jedenfalls ist dies nicht bei allen klar —, dürfen bis zu einer Klärung in unserem Land keine politische Verantwortung bekommen. Natürlich gibt es so viele Sympathisanten und Wähler, weil wir in den letzten Jahrzehnten und Jahren vieles vernachlässigt haben: Europa, Heimat, Nation, Grundwerte, Religion. Es wird höchste Zeit dafür.

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