Henry Tandey Der Mann, der Hitler nicht erschoss

Vor 99 Jahren hätte der britische Soldat Henry Tandey das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg verhindern können, indem er Hitler erschoss. Das behauptete zumindest der Diktator selbst. Eine Spurensuche.

 Henry Tandey war der höchstdekorierte britische Soldat des Ersten Weltkriegs. Dass er 1918 angeblich Adolf Hitler am Leben ließ, passte gut zur NS-Propaganda vom "göttlichen Schutz" für den Diktator.

Henry Tandey war der höchstdekorierte britische Soldat des Ersten Weltkriegs. Dass er 1918 angeblich Adolf Hitler am Leben ließ, passte gut zur NS-Propaganda vom "göttlichen Schutz" für den Diktator.

Foto: The Green Howards Museum

Es ist ein unwahrscheinlicher Moment der Menschlichkeit: Als der britische Soldat Henry Tandey, 27 Jahre alt, am 28. September 1918 in der zweiten Schlacht von Cambrai im französischen Dorf Marcoing sieht, dass der deutsche Soldat, der vor seinen Augen aus einem Schützengraben kriecht, verletzt ist und nicht einmal den Versuch macht, sein Gewehr zu heben, senkt Tandey seine eigene Waffe und lässt ihn laufen. Der Deutsche dankt ihm mit einem kurzen Kopfnicken und eilt davon. Historisch relevant indes wäre dieses Ereignis nicht — hätte Adolf Hitler nicht wiederholt behauptet, der so unüblich verschonte deutsche Gefreite sei er selbst gewesen.

20 Jahre später, so will es die Legende, besucht der britische Premierminister Neville Chamberlain Adolf Hitler auf dem gerade fertiggestellten Berghof Obersalzberg, bevor er das Münchner Abkommen unterschreibt, in dem Nazi-Deutschland das Sudetenland zugestanden wird. Dabei fällt Chamberlain ein Gemälde ins Auge: "Die Kreuzung von Menin" zeigt Soldaten nach einer Schlacht — aber nicht etwa deutsche, sondern britische. Als Hitler die Überraschung seines Gasts bemerkt, erklärt er angeblich: "Der Mann im Vordergrund war 1918 so nahe dran, mich zu töten, dass ich dachte, ich würde Deutschland niemals wiedersehen. Die Vorsehung rettete mich vor der teuflischen Präzision, mit der die englischen Jungs auf uns schossen." Das Bild zeigt Tandeys Einheit, die "Green Howards".

 Auf diesem Bild will Hitler Tandey später erkannt haben — obwohl dessen Gesicht bei dem angeblichen Treffen sicher schlammverschmiert gewesen wäre.

Auf diesem Bild will Hitler Tandey später erkannt haben — obwohl dessen Gesicht bei dem angeblichen Treffen sicher schlammverschmiert gewesen wäre.

Foto: The Green Howards Museum

In dem Mann im Vordergrund, der 1914 einen verwundeten Kameraden ins Feldlazarett trägt, will Hitler Tandey wiedererkannt haben. Das sagt der Diktator der Legende nach voller Überzeugung — und bittet Chamberlain, Tandey anzurufen und ihm noch einmal zu danken.

Spätestens hier wird die seit 1940 verbreitete Geschichte allerdings zweifelhaft: Weder war Tandey telefonisch erreichbar, noch gibt es in Chamberlains privaten oder beruflichen Papieren irgendeinen Hinweis auf das angebliche Treffen auf dem Obersalzberg. Und selbst wenn es stattgefunden hätte: Erstens ist das Bild erst 1923 entstanden, nach einer zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alten Skizze. Zweitens wäre Hitler Tandey erst vier Jahre nach der im Bild gezeigten Szene begegnet, und zwar für nur wenige Sekunden, in denen das Gesicht des Briten unter Schlamm und Blut kaum zu erkennen gewesen sein dürfte. Drittens und vor allem aber hat die Begegnung zwischen Tandey und Hitler wahrscheinlich gar nicht stattgefunden. So war Hitlers Einheit an dem fraglichen Tag in Wytschaete stationiert, 80 Kilometer nördlich von Marcoing.

Umso mehr stellt sich die Frage, wieso Hitler das angebliche Ereignis ansprach, bis es 1940 weltweit Schlagzeilen machte — und weshalb er eine Kopie des Bildes auf dem Obersalzberg hatte aufhängen lassen. Dass dem so war, bestätigt das Museum der Green Howards. Überliefert ist sogar die Antwort von Fritz Wiedemann, im Ersten Weltkrieg Hitlers Vorgesetzter und inzwischen Adjutant des Diktators: "Der Führer ist natürlich an allem interessiert, was seine eigenen Kriegserinnerungen betrifft. Er war tief bewegt, als ich ihm das Gemälde zeigte. Er hat mich beauftragt, Ihnen seinen besten Dank für das freundliche Geschenk auszudrücken, das mit so vielen Erinnerungen verbunden ist."

Der Historiker Thomas Weber sagt dazu: "Hitler diente in der Regel mehrere Kilometer hinter der Front." Was in den Schützengräben tatsächlich vor sich ging und wie im Krieg die Stimmung kippte, habe er nie erlebt. Im Übrigen habe keiner der Offiziere Hitler Befehlsgewalt übertragen, "nicht einmal über einen einzigen anderen Soldaten". Deshalb habe dieser seine Kriegserlebnisse dramatisiert.

Dem verzweifelt um Frieden ringenden Chamberlain 1938 von seiner Beinahe-Erschießung zu erzählen, habe sehr viel Sinn ergeben: "Hitler hatte ein großes Talent, den Menschen, die er traf, genau das zu sagen, was sie hören wollten." In diesem Fall war es eine Geschichte des Gewaltverzichts. Indem sich Hitler darin eine Rolle zuschrieb, ließ er sein eigenes Überleben als schicksalhaft, wenn nicht gar göttlich gewollt erscheinen. Denn Tandey war nicht irgendjemand, sondern ein echter Kriegsheld, mit sieben Medaillen der höchstdekorierte einfache britische Soldat des Ersten Weltkriegs überhaupt. Just am Tag der angeblichen Begegnung hatte er sich das Victoria Cross verdient, die wertvollste militärische Auszeichnung in Großbritannien, für außergewöhnliche Tapferkeit im Angesicht des Feindes. Unter schwerem Beschuss hatte er eine wichtige Brücke repariert sowie mit nur acht Kameraden 37 Deutsche gefangengenommen.

"Wahrscheinlich mehr Mythos als Wahrheit"

Tandey hat sich nur selten zu den Gerüchten geäußert. 1939 sagte er einem Reporter der Lokalzeitung Coventry Herald: "Man sagt, ich hätte Hitler getroffen. Das mag sein, aber ich erinnere mich jedenfalls nicht an ihn." Um die Welt ging aber die Wortmeldung, die er einem Reporter 1940 in den Block diktierte, unmittelbar nach einem verheerenden Bombenangriff auf seine Heimatstadt Coventry: "Wenn ich nur damals gewusst hätte, was aus ihm werden würde. Beim Anblick der vielen Menschen, die hier in Coventry durch ihn verwundet und getötet wurden, tat es mir vor Gott leid, dass ich ihn damals geschont hatte." Im Nachhinein gäbe er gern "zehn Jahre meines Lebens dafür, hätte ich nur damals fünf Minuten lang in die Zukunft sehen können".

Tandeys Biograf David Johnson betrachtet das nicht als Beweis für die Richtigkeit der Legende: "Dies war ein Tiefpunkt für Coventry und das gesamte Land. Angesichts dessen, was er gesehen hatte, kann man Tandey Emotionalität und auch etwas Selbstmitleid nicht verübeln. Außerdem könnte der fragliche Journalist diese Zitate auch aus dem Zusammenhang gerissen haben." Tandey, der nach 15 Jahren als Soldat seit 1926 als Wachmann gearbeitet hatte, versucht 1940 jedenfalls verzweifelt, sich noch einmal zur Armee zu melden, um selbst gegen die Nazis zu kämpfen, doch der mehrfach Verwundete inzwischen 49-Jährige wird abgewiesen. Zu seinem angeblichen schicksalhaften Treffen mit Hitler äußert er sich nie wieder. Aus dem Museum seiner Einheit heißt es zurückhaltend, die Geschichte sei "wahrscheinlich mehr Mythos als Wahrheit". Der dortige Kurator Steve Erskine betont den tragischen Aspekt der Legende: "Henry Tandey lebte jahrzehntelang in dem Bewusstsein, dass ihn manche Leute für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich machten."

1977 starb Henry Tandey im Alter von 86 Jahren, seine Asche wurde auf dem Soldatenfriedhof in Marcoing bestattet. An dem Ort, an dem er das Leben eines Menschen verschonte, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Adolf Hitler war.

(tojo)
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