Gastbeitrag Berlin — die Unbezähmbare

Berlin · Am Sonntag wählt Berlin – eine Stadt, in der wenig zu funktionieren scheint und die dennoch geliebt wird. Christoph Peters lebt seit dem Jahr 2000 als freier Schriftsteller in Berlin und schreibt in seinem Gastbeitrag über den ganz eigenen Charme der Stadt.

 Berlins Wahrzeichen: das Brandenburger Tor.

Berlins Wahrzeichen: das Brandenburger Tor.

Foto: rtr, FAB/SN

Am Sonntag wählt Berlin — eine Stadt, in der wenig zu funktionieren scheint und die dennoch geliebt wird. Christoph Peters lebt seit dem Jahr 2000 als freier Schriftsteller in Berlin und schreibt in seinem Gastbeitrag über den ganz eigenen Charme der Stadt.

Schon als ich im Jahr 2000 nach Berlin zog, sagten mir die wirklich "coolen" unter meinen Freunden, dass ich die "coolste" Zeit in Berlin leider verpasst hätte. Damals war die Sanierung von Mitte in vollem Gange, die illegalen Bars und Clubs in Abbruchhäusern, vergessenen U-Bahn-Schächten mussten exklusiven Modelabels und teuren Restaurants weichen.

Statt echter Avantgardisten und Bohemiens sah man bekannte Gesichter aus der Unterhaltungsbranche am Nachbartisch, Sportwagen und dunkle Limousinen kurvten durch die Straßen, in den Schaufenstern wurden Luxusprodukte und Wohnaccessoires für den gehobenen Geldbeutel präsentiert. Die sogenannte "Szene" war bereits in den Prenzlauer Berg abgewandert, wo es damals aussah, als läge die DDR noch immer in den letzten Zügen.

Die "Szene" ist inzwischen weitergezogen

Seit dieser Zeit ist die Berlinbeschimpfung zu einem eigenen Genre in Feuilletons und sozialen Netzwerken geworden. Als Schuldige am permanenten Niedergang der Stadt gelten wahlweise "Gutmenschen", die ihr Gewissen in Biomärkten beruhigen, Parallelgesellschaften, Organisierte Kriminalität oder eine unfähige Bürokratie, die Bauvorhaben von nationaler Bedeutung ebenso scheitern lässt, wie gegenwärtig die Versorgung der Flüchtlinge.

Natürlich gibt es viel, was einem an Berlin missfallen kann: Man kann bemängeln, dass noch immer nicht alle Verkehrsprojekte, die aus der geteilten Stadt eine einzige machen sollen, abgeschlossen sind, man kann betrauern, dass schäbige Garagenanlagen, die in den 60er Jahren in kriegsbedingte Brachen gebaut wurden, Häusern mit hochpreisen Eigentumswohnungen weichen müssen. Es gibt alten und neuen Filz, Autonome, Neonazis und "Helikopter"-Eltern, die Erziehern mit dem Anwalt drohen, wenn ihre Dreijährigen nach zwei Jahren Kita noch immer kein glutenfreies-Brötchen auf Englisch bestellen können.

Ich selber bin damals in den Prenzlauer Berg gezogen, vor allem, weil es dort günstige Wohnungen gab. Die "Szene" ist inzwischen weitergezogen. Neulich war sie im Friedrichshain, mittlerweile trifft sie sich vielleicht in Neukölln, aber auch das kann schon wieder vorbei sein. Ich verbringe meine Nächte nur noch selten tanzend und berauscht unter 20-Jährigen, doch sie kommen zum Wochenende noch immer in Scharen aus ganz Europa, um in Berlin Party zu machen.

Jedes Mal entdeckt man neue Cafés, Restaurants und Läden

Selbst wenn ich mein Leben inzwischen ruhiger angehe: Ich finde nach wie vor jedes Mal, wenn ich durch die Stadt gehe, neue Cafés, Restaurants oder Läden, in denen Leute selbstgebackene Kekse zu unbekannten Kaffeesorten anbieten oder die Kollektion ihres eben erst gegründeten Modelabels verkaufen. Jeden Abend kann ich auf Ausstellungseröffnungen junger unbekannter Künstler gehen oder mir die Bilder eines Starmalers anschauen, kann aus einer großen Zahl freier Theaterproduktionen auswählen oder die aktuelle Inszenierung eines berühmten Regisseurs besuchen.

Wenn mir mein bürgerliches Viertel auf die Nerven geht, bin ich binnen 20 Minuten im Kreuzberger Orient oder ich fahre in die vietnamesischen Markthallen nach Lichtenberg, wo ich einkaufen und essen kann wie in Hanoi und mich als Urlauber in meiner eigenen Stadt fühle. Wem das alles zu viel Multikulti ist, der findet immer noch verschnarchte Gegenden mit rustikalen Berliner Eckkneipen samt übellaunigem Wirt, der einem zum Bier eine gut gemeinte Beleidigung an den Kopf knallt.

Tatsächlich leben die vielen ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen im Großen und Ganzen ziemlich entspannt neben- und nicht selten miteinander.

Möglichkeiten zu Eigeninitiative und Improvisation

Selbst der Mangel an Organisation hat sein Gutes, bietet er doch denen, die ihre Verantwortung als Bürger nicht an den Staat abgeben wollen, Möglichkeiten zu Eigeninitiative und Improvisation, und gelegentlich bekommen wir sogar die Chance, über uns selbst hinauszuwachsen. Gerade in den vergangenen Monaten, als das offizielle Berlin mit der Aufnahme der vielen Flüchtlinge heillos überfordert war, haben sich in vielen Vierteln die Nachbarn von Notunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen zusammengetan, Lebensmittel, Hygieneartikel, Wäsche eingekauft und nahezu alles gespendet, was Menschen, die nichts mehr haben, für einen Neuanfang brauchen — vom Kinderwagen bis zum Handy.

Sie haben den Ankommenden bei Formularen und Behördengängen geholfen, Deutschunterricht gegeben, sie zu sich nach Hause eingeladen und Begegnungsräume geschaffen, in denen Integration kein überfüllter Kurs ist, sondern Erzählen und Zuhören, unvoreingenommene Neugier und wechselseitiges voneinander Lernen.

Wenn all diese ganz neuen Berliner demnächst anfangen, aus dem, was sie an Können, Wissen und Erfahrung mitbringen, ihre eigenen Ideen, Projekte und Geschäftsmodellen zu entwickeln, dann wird Berlin vielleicht wieder chaotischer, aber auch bunter, frischer und noch kreativer, und das museal verspießerte New York kann daneben genauso einpacken wie das unbezahlbare London.

(RP)
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