Ex-Prostituierte Ilan Stephani "Der Sex im Puff ist enttäuschend und banal"

Berlin · Ilan Stephani hat zwei Jahre in einem Berliner Bordell als Prostituierte gearbeitet. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum sie als Tochter aus gutem Hause in den Puff ging, warum der Sex dort schlecht ist und welche Männer zu ihr kamen.

 Ilan Stephani hat zwei Jahre als Prostituierte in einem Berliner Bordell gearbeitet.

Ilan Stephani hat zwei Jahre als Prostituierte in einem Berliner Bordell gearbeitet.

Foto: Merav Maroody

Vieles klingt unglaublich, was Ilan Stephani (31) in ihrem Buch "Lieb und teuer" geschrieben hat. Sie räumt auf mit den Klischees einer Prostituierten, an die sie selbst einst glaubte. Heute arbeitet sie als Körpertherapeutin in Berlin.

Damals war sie Studentin, wuchs in gut bürgerlichen Verhältnissen in einem christlich geprägten Elternhaus auf. Sie machte ein Einser-Abitur, ein Jahr später ging sie ins Bordell. Sie fing unter anderen Voraussetzungen als Prostituierte an als viele andere. Sie hatte keinen Zuhälter - man könnte sagen, Stephani war eine Prostituierte, die es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht gibt: Sie fühlte sich die ganze Zeit über frei und selbstbestimmt. Gerade deshalb gelingt ihr in ihrem Buch ein differenzierter Blick auf das Bordell, auf Huren und Freier.

Frau Stephani, ich nenne Ihnen jetzt vier Begriffspaare und Sie sagen spontan, welcher Begriff Ihnen besser gefällt. Bordell oder Puff?

Ilan Stephani Puff

Schwanz oder Penis?

Stephani Schwanz

Hure oder Prostituierte?

Stephani Hure

Ficken oder Sex haben?

Stephani Sex haben

Sie nannten sich damals Paula. Ich finde es interessant, dass Sie Paula im Buch als "Hure" bezeichnen. Dabei ist das auch ein Schimpfwort. Ist das die rohe Sprache der Prostitution?

Stephani Ich mag an dem Wort, dass es weniger klinisch klingt als Prostituierte. Für mich klingt es auch altmodisch und passt daher zu dieser bürgerlichen Verschämtheit, die im Puff herrscht. Dort vermeiden alle eine konkrete Arbeitsbezeichnung. Und auch Dominas und Escort-Girls, die den Prostituierten zugerechnet werden, würden sich nie als solche bezeichnen. Auch der Begriff Rotlicht ist verschämt. Rotlicht kann auch Infrarotlicht gegen Ohrenschmerzen sein. Den Begriff 'Nutte' habe ich zum Beispiel - abgesehen von ein paar Männern kurz vor dem Orgasmus - nie gehört.

Sex mit einer "Nutte" ist also doch eine männliche Fantasie?

Stephani Ich weiß nicht, ob das die häufigste Fantasie von Männern ist. Aber Sex mit einer hurenähnlich verfügbaren Frau ist es ganz sicher, also mit einer sexuell erreichbaren Frau. Meine Freier machten die Erfahrung, dass ihre Fantasie verschwand, sobald sie mir alleine gegenüber saßen. Die waren aufgeregt. Männer planen immer wieder, in den Puff zu gehen, und denken, es sei geiler, als es am Ende ist.

Lassen Sie uns über die Kunden sprechen. Welcher Typ Mann waren Ihre Freier?

Stephani Es kann absolut jeder sein. Weit mehr als die Hälfte aller Männer geht in den Puff. Es gibt eine Studie, dass 88 Prozent aller Männer einmal in ihrem Leben zu einer Prostituierten gehen und knapp die Hälfte davon etwa einmal im Monat. Es ist eher die Frage, wer ist es nicht?

Wer kam zu Paula?

Stephani Männer, die Gespräche mochten und nicht auf Spagat-und-Purzelbaum-Sex standen, waren gut bei mir aufgehoben. Persönliche Zuwendung war mir wichtig, auch wenn sie gefaked war. Der Puff, in dem ich tätig war, hat Männer angezogen, die häufiger in Beziehungen waren, von denen wiederum waren fast alle verheiratet. Unsere Klientel war typisch männlich, weiß und hetero, nicht super reich, hat Geld für einen Anzug, muss nicht ständig auf die Ausgaben achten. Männer, die ihr Leben im Griff haben wollen, die sich von ihrem Leben in der Großstadt auch mal eine Auszeit gönnen: Dazu gehört der Sauna-Besuch, eine Massage und eben auch der Puff.

Fanden Sie Ihre Kunden sympathisch?

Stephani Mich hat der Kontakt interessiert, nicht das persönliche. Ich war zugewandt. Ich musste mir aber auch eine Menge Schwachsinn anhören. Zuhören, Nicken, Interesse heucheln, dieses Spiel mit Authentizität hat mich extrem fasziniert. Aber der konkrete Mann hat mich als Person fast nie interessiert. Es gibt ein paar Männer, bei denen mein Herz warm wird, wenn ich heute an sie denke. Aber das waren Männer, die nicht versucht haben, Eindruck zu schinden, die tapfer gespart haben, um einmal im Monat zu Paula zu gehen und mit mir eine eigene Art von Vertrauen aufgebaut haben.

Sie schreiben an mehreren Stellen, dass Prostitution den Freier eigentlich nicht befriedigt. Ich dachte, Männer gehen in den Puff, um hinterher befriedigt herauszukommen?

Stephani Männer sind durch das Abspritzen sediert. Viele wissen nicht, was wirkliche Befriedigung ist. Wer das nicht weiß, hält ein künstliches Beruhigen für Befriedigung. Deswegen fallen Männer auch immer wieder auf die Glücksversprechen der Prostitution herein.

Ihre ersten beiden Freier zeigten Ihnen schon an Ihrem ersten Tag, welchen Sex Sie haben würden - der eine brauchte nur fünf Minuten und ein bisschen hoch, runter, hoch, runter bis zum Ejakulieren, der andere wollte gar keinen Sex. Um ehrlich zu sein, finde ich das sehr banal.

Stephani Ja, das ist es auch. Prostitution hat kein Geheimnis. Sie ist enttäuschend und banal. Ein Hinweis darauf, dass unser eigener privater Sex meistens banal ist. Gleichzeitig können wir nicht aufhören, mehr in Sex hineinzuinterpretieren. Das projizieren wir dann auf diese Schattenwelt, und die gibt es nicht.

Es geht wirklich nur ums Ejakulieren und nicht um sexuelle Erfahrung?

Stephani Ja. Schwanzfixierung bedeutet die Gier auf den kurzen Moment der Befriedigung nach dem Abspritzen.

Provokant gesprochen könnte man sagen, es ist Selbstbefriedigung mit anderen Mitteln.

Stephani Genau. Und im Körper einer anderen Person. Meine Vagina ersetzt bei Rechtshändern die rechte und bei Linkshändern die linke Hand (lacht). Ich kann Männern nur empfehlen, ihren eigenen Körper zu erforschen, statt in den Puff zu gehen und dann von einer Frau zu hören, dass sie alles richtig machen, obwohl sie wissen, dass die Frau Geld dafür bekommt, das zu erzählen.

Hatten Sie Spaß am Sex mit Ihren Kunden?

Stephani Das war total unterschiedlich. Es gab Sex, der mich total kalt gelassen hat. Und ich hatte Orgasmen, die ich nicht faken musste. Aber meine sexuelle Befriedigung stand für mich überhaupt nicht im Vordergrund. Der Sex, den ich damals hatte, entsprach dem, den viele Frauen auch privat haben. Es war damals normal guter und normal schlechter Sex. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, es war schlechter Sex für alle Beteiligten.

Ihr Buch liest sich wie der Erfahrungsbericht Ihrer sexuellen Emanzipation. Wie kamen Sie darauf, im Puff zu arbeiten?

Stephani Damals war ich einfach neugierig und fasziniert. Ich liebte es, mit Menschen in Kontakt zu sein und wollte aber mehr als Smalltalk mit meinen Kommilitonen auf dem Campus. Ich hatte Lust auf dichten, tiefen Kontakt und Abenteuer.

Sie hatten damals Klischees über Prostituierte im Kopf...

Stephani Meine Klischees waren gleichzeitig mein Hemmschuh. Sie standen zwischen meiner Neugier und dem Puff. Ich ging damals zu einem Frühstück für Prostituierte eines Berliner Frauenvereins. Ich war total aufgedonnert und stöckelte in hohen Schuhen in die Büroräume. Ich war geschockt, als ich sah, dass die anderen Frauen in Jeans und Turnschuhen kamen und von ihren Männern, Kindern und ihrem letzten Urlaub erzählten. Ich dachte, das sind keine Huren. Ich bin mit meinen Klischees auf die Nase gefallen. Nach dem heilsamen Schock war ich erleichtert und der Weg war für mich frei.

War es für Sie keine Überwindung?

Stephani Nein, wirklich alle, mit denen ich damals darüber gesprochen habe, haben mir ständig gesagt, ich kann jederzeit 'Stopp' sagen. Ich würde natürlich trotzdem niemanden empfehlen, mit der Prostitution anzufangen.

Gab es in Ihrer Zeit als Prostituierte Momente, in denen Sie "Stopp" gesagt haben?

Stephani Es gab ein paar Situationen, in denen es einfach nicht gepasst hat. Es gab zum Beispiel einen Freier, der routiniert in den Puff ging und die neuesten Frauen ausprobieren wollte. Aber ich hab ihn überhaupt nicht angemacht. Wir lagen eine halbe Stunde ratlos nebeneinander. Nach einem halben Jahr etwa hat mich ein anderer Freier vergewaltigt. Er ist einfach über mich hergefallen. Danach wurde ich innerlich brutaler. Davor war ich total begeistert von allem, was ich im Puff erlebt hatte. Aber diese Situation hat mir gezeigt, dass ich auf meine Grenzen achten muss, weil es sonst niemand tut.

Was wollten Sie nicht mit Ihren Freiern tun?

Stephani Natürlich habe ich die Freier nicht geküsst und auch den Kopf weggedreht, wenn es einer versucht hat. Wenn ein Freier kam, der eine Inszenierung mit einer Krankenschwester wollte, dann war ich auch raus. Genauso wie bei SM. Und ich wollte auch keinen Dirty Talk oder Analsex. Da habe ich mir am Anfang immer Geschichten ausgedacht, warum ich das nicht wollte. Ich hätte mir den Magen verdorben und sowas. Ich hatte wirklich dieses typisch Mädchenhafte, ich konnte nicht unhöflich sein.

Das heißt, Sie haben vorher mit den Freiern verhandelt, was geht?

Stephani Es gab vorher schon ein Gespräch. Aber mein Hauptjob war, zu verbergen, dass es ein Job ist. Alle Beteiligten waren total verschämt und konnten sexuelle Wünsche nicht äußern. Insofern hab ich es oft auf mich zukommen lassen. Und die Preise wurden nicht verhandelt, da gab es feste Stundensätze.

Hat Sie der Aspekt "Sex gegen Geld" auch beschämt?

Stephani Ja, ich habe zum Beispiel versucht, die Sache mit der Bezahlung schon vorher ganz nebenbei zu regeln, bevor ich die Männer zur Dusche gebracht habe. Dann war das aus dem Weg. Ich glaube, dass Scham eine Rolle spielt selbst bei Frauen wie mir, die wirklich glücklich mit dem Job waren. Das Gefühl unterscheidet sich nicht wirklich davon, ob ich mir einen Typen in der Disco oder bei Tinder organisiere.

Sie beschreiben, dass Sie an Ihrem ersten Tag im Puff erstmal mit Kleidung und Make-up ausgestattet wurden. Was für eine Prostituierte waren Sie?

Stephani Ich war 19 bis 21 Jahre alt. Ich war unbekümmert, aber körperlich durchaus freizügig. Später habe ich gemerkt, dass es völlig egal ist, ob ich Wimperntusche trage.

Lange rote Fingernägel, Stilettos und schicke Dessous sind also unrealistisch?

Stephani Ganz und gar. Stellen Sie sich vor, Sie haben nur eine halbe Stunde Zeit, da wollen Sie der Prostituierten nicht erst das Mieder aufschnüren und die Strapse ausziehen.

Hatten Sie anderweitig Sex während Ihrer Zeit als Hure?

Stephani Ich hatte sporadisch Sex und ich hatte auch drei Monate lang eine Beziehung mit einem Mann, der von meiner Tätigkeit wusste. Im Nachhinein würde ich das aber eher als Affäre bezeichnen. Mir war der Job damals so wichtig, dass ich mich auch nicht wirklich auf jemand einlassen konnte.

Sie sind eine Tochter aus gutem Hause, Ihr Vater ist Arzt, Sie haben als Studentin mit der Prostitution angefangen. An einer Stelle in ihrem Buch schreiben Sie, dass die Erziehung zur braven Tochter die Erziehung zur Prostituierten ist. Klingt provokant.

Stephani Ich war die Tochter aus gutem Hause, die Einser-Schülerin, die brillant denken konnte. Ich wollte dieses Leben bewusst ein Stück weit verlassen. Ich fühlte mich frei, in die Prostitution einzusteigen. Und noch freier, sie wieder zu verlassen. Meine Biografie sieht vielleicht von außen aus, wie ein krasses Umschwenken. Aber ich habe das Gefühl, das ist eine gerade Linie. Ich bin aufgewachsen, ich habe genickt, ich habe Männermeinungen in den Schulbüchern gelesen, ich habe sie wiedergegeben und damit mein Einser-Abitur hingelegt. Danach habe ich für Nicken und nett sein Geld genommen im Puff. Wo ist der Unterschied?

Verharmlosen Sie damit nicht die Prostitution?

Stephani Das Gegenteil ist der Fall. Ich klage die Konditionierung an, in der junge Mädchen erzogen werden. Wir bringen Mädchen letzten Endes bei, ihr Ziel sei es, gut auszusehen und ihr gutes Aussehen neben dem beruflichen Erfolg nicht zu verlieren. Das alles leistet sexueller Gewalt Vorschub. Zweitens, ich differenziere "Sex gegen Geld" und "Sex unter Zwang". Ich glaube diese Differenzierung ist hilfreich gegen die Verharmlosung.

Sie haben Ihrer Familie und ihren Freunden schon damals von Ihrer Arbeit erzählt. Hatten Sie nicht Angst vor sozialer Stigmatisierung?

Stephani Das Schlimmste wäre gewesen, wenn mich jemand damit erpresst hätte, es meinen Eltern zu sagen. Da ich die beiden aber relativ schnell eingeweiht habe und sie sich nicht von mir abgewendet haben, war diese Gefahr nicht vorhanden. Trotzdem hat sich das natürlich bei uns im Dorf und auch in der Klinik, in der mein Vater arbeitete, herumgesprochen. Ich war im Jahr nach meinem Abi beim nächsten Abiball das Gesprächsthema des gesamten Kollegiums und der Schüler. Mein Vater sagte damals, 'lass sie einfach reden'. Das habe ich ihm hoch angerechnet.

Hat die Prostitution Ihre Sexualität verändert?

Stephani Ja, ich hatte das Gefühl, meine Vagina stumpfte mit der Zeit ab.

Sie schildern in Ihrem Buch viele solcher intimen Details. Warum haben Sie sich dazu entschieden, das alles zu veröffentlichen?

Stephani Ich wollte ein Buch, das auf den Ebenen der Intimität genau so nackt ist, wie es nur sein kann. Ich würde auch sagen, dass es eine Flucht nach vorne ist, wenn ich mit meinem echten Namen und meinem echten Gesicht erzähle, was ich erlebt habe. Täte ich das nicht, würde ich erst recht anheizen, dass man mich im Internet recherchiert. Ich hab das Buch auch geschrieben, weil ich mit Klischees aufräumen wollte.

Warum sind Sie nach zwei Jahren ausgestiegen?

Stephani Ich hatte ein besonderes Erlebnis. Eine Frau massierte meine Vagina. Das hat mir gezeigt, dass ich sexuell noch viel mehr entdecken kann. Und dann habe ich einfach aufgehört. Ich habe der Puffdame eine E-Mail geschrieben, dass sie mich für die nächste Schicht nicht mehr einplanen soll. Darauf kam nur 'Ich wünsch dir alles Gute'.

Das Buch "Lieb und Teuer" ist im Ecowin-Verlag erschienen und kostet 20 Euro.

(heif)
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