Die Magna Charta Europas Grundgesetz

Vor 800 Jahren, am 15. Juni 1215, trotzten die englischen Barone ihrem König Johann Ohneland die Magna Charta ab, eine Urkunde über persönliche und politische Freiheiten. Die Magna Charta ist eine der wichtigsten Grundlagen unserer modernen Bürgerrechte, von Demokratie und Freiheit. Was aber Demokratie und Freiheit sind – das wird seither immer wieder anders beantwortet.

Vor 800 Jahren, am 15. Juni 1215, trotzten die englischen Barone ihrem König Johann Ohneland die Magna Charta ab, eine Urkunde über persönliche und politische Freiheiten. Die Magna Charta ist eine der wichtigsten Grundlagen unserer modernen Bürgerrechte, von Demokratie und Freiheit. Was aber Demokratie und Freiheit sind — das wird seither immer wieder anders beantwortet.

Es war ein hastig zusammengestoppeltes Dokument, mitten in einer kriegerischen Situation entstanden. Und doch veränderte die Magna Charta, die der englische König Johann Ohneland am 15. Juni 1215 auf der Wiese von Runnymede bei London unterschrieb, den Gang der Weltgeschichte. Dabei war sie für die englischen Barone, die von den Walisern und dem Schottenkönig Alexander II. unterstützt wurden, mehr aus der Not geboren. Weil die rebellischen Adligen sich nicht hinter einem Thronanwärter gegen den herrschenden König sammeln konnten, wählten sie ein Dokument. Und dieses Dokument verbriefte ihnen das Recht, vor der Willkür des Herrschers geschützt zu sein.

 "Die englische Kirche soll frei sein, mit unverminderten Rechten und unverletzten Freiheiten", lautet er der Sätze aus der Magna Charta.

"Die englische Kirche soll frei sein, mit unverminderten Rechten und unverletzten Freiheiten", lautet er der Sätze aus der Magna Charta.

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Um es gleich vorwegzunehmen — die Magna Charta war keine demokratische Verfassung im heutigen Sinn. Sie diente vielmehr den mächtigen Feudalherren und der Kirche dazu, die eigene Rechtsposition gegenüber einem zunehmend selbstherrlichen König zu sichern. Es ging um Einfluss, Macht und Reichtum — mit übrigens recht zweifelhaften Bestimmungen in Bezug auf Frauen und Juden. Die Magna Charta ist also ein Dokument der Zeit, des Mittelalters.

Aber sie enthält Revolutionäres. Denn sie markiert den Beginn der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheitsrechte, mithin auch der Herrschaft des Volkes. Die berühmteste Bestimmung war der Artikel 39, in späteren Fassungen der Artikel 29. Danach darf "kein freier Mann verhaftet oder seiner Besitzungen beraubt werden als durch das gesetzliche Urteil seiner Standesgenossen." Dieser fast unscheinbare Satz bildete eine der Grundlagen für die Herrschaft des Rechts. Diese Neuerung entstand damals auch in anderen Teilen Europas, etwa durch das Kirchen- und Feudalrecht, durch die Errichtung der Cortes in Kastilien 1188 und die Verfassungen in den freien Städten Italiens und später ganz Europas.

Ganz im Sinne späterer Verfassungen wurde in der Magna Charta die Freiheit des Einzelnen vor der Willkür des Staates geschützt. Und noch im Artikel eins des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, schwingt noch etwas von dieser Tonalität mit. Der Staat war im Mittelalter ein Machtgebilde, das den Interessen des Königs diente, was Gerichtsbarkeit, Steuereintreibung und Kriegführung betraf.

Deshalb ist noch eine zweite Bestimmung revolutionär: Es ist der Artikel 14, der die Steuererhebung des Königs an die Zustimmung der Großen im Reich knüpft, die im königlichen Rat vertreten sind. Daraus entwickelte sich das englische Parlament, das als vornehmstes Recht die Budgethoheit besaß. Damit konnten die Freien neben den Angriffen auf den Leib (Verhaftung) auch die auf ihr Vermögen (Steuererhebung) abwehren.

Die neuen Rechte der Barone, die sich auch auf die freilich wenigen freien Bürger des Königreichs bezogen, blieben nicht unbestritten. Erst die "Petition of Right" im Jahr 1628 begründete den wirklichen Freiheitsspielraum der Bürger, und später erkämpfte sich das Parlament als Vertretung des Landes mehr und mehr Rechte und wurde auch breiter in seiner Repräsentanz. Doch die Grundlage für die Freiheit war mit dem rebellischen Akt von 1215 gelegt. Er sollte Rechtsstaat und Demokratie in der ganzen Welt prägen. Martin Kessler

Die Tinte auf dem Pergament der Magna Charta ist schon seit mehr als einem halben Jahrtausend trocken, da gibt sich die englische Kolonie Massachusetts ein neues Siegel. Es zeigt einen Siedler, der in der einen Hand ein Schwert hält, in der anderen die Magna Charta. 1775 ist das: der historische Moment, da sich der Staat des Erbes von Runnymede bemächtigt, und zwar nicht bloß als Abwehrrecht der Bürger, sondern als Weltanschauung. In Massachusetts dient diese Bemächtigung dazu, die Trennung der Kolonien von Großbritannien zu legitimieren ("Mit dem Schwert sucht er die sanfte Ruhe in Freiheit", lautet der Wahlspruch des Siegels); ein Jahr später, am 4. Juli 1776, postuliert die Unabhängigkeitserklärung der USA "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" als "unveräußerliche Rechte" — und stellt im nächsten Satz fest, Regierungen seien nur dann legitim, wenn sie die Zustimmung der Regierten haben. Es ist die Geburt von Freiheit und Demokratie als Staatsideologie aus dem Geist der europäischen Aufklärung.

Deren Vordenker Jean-Jacques Rousseau prägt zu dieser Zeit die Interpretation der "Volonté générale", des unfehlbaren "Allgemeinwillens" des souveränen Volkes, der für ihn mit dem Allgemeinwohl identisch ist: Das Staatsinteresse ist mehr als die Summe der Einzelinteressen. 1789 feiert diese in Europa gezeugte und in Amerika geborene Ideologie ihren Triumph in der Alten Welt, als die revolutionäre Nationalversammlung in Paris die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet — Artikel 6 beginnt so: "Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens." Die Revolution beweist schnell, wie leicht sich Rousseaus Ideale für den Terror in Dienst nehmen lassen: Im Namen der Vernunft rollen die Köpfe. Für Robespierre ist die Guillotine "Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie". In der aufklärerischen Demokratietheorie steckt, paradox genug, auch der Keim blutiger Tyrannei.

Um aber unter Berufung auf die Grundsätze der Magna Charta wirklich die Hölle auf Erden zu fabrizieren, fehlen noch die Großideologien des 19. und 20. Jahrhunderts: Kommunismus und Nationalismus. Die Freiheit führen Bolschewisten, Faschisten und Nationalsozialisten gleichermaßen im Munde — "solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit", schreibt der Berufsrevolutionär Lenin 1917. Wie weit diese Ideenwelt sich allerdings von 1776 entfernt hat, zeigt sein berühmt-berüchtigter Spruch, Freiheit sei ein "bürgerliches Vorurteil". 25 Jahre später setzen die Nazis, die selbst ernannten Befreier vom Bolschewismus, über das Lagertor von Auschwitz den Satz "Arbeit macht frei". Während für Hitler Demokratie eine jüdische Pestilenz ist, beanspruchen die Kommunisten sogar diese Grundidee für sich — "demokratischer Zentralismus" heißt Lenins Organisationsprinzip für die staatliche Unterdrückung.

Es ist eine berührende Wendung der Geschichte, dass die Revolutionen 1989/90 unter dem Motto klassischer Freiheitsrechte stehen, wie sie schon 1215 aufgeschrieben wurden: Abwehr staatlicher Willkür, Herrschaft des Rechts, Reisefreiheit. Die Prinzipien der Magna Charta sind stärker als ihre Perversion. Frank Vollmer

Zwischen 1990 und heute hat die älteste Partei Deutschlands, die SPD, fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. In Bremen nahm vor drei Wochen nur jeder zweite sein Wahlrecht in Anspruch. Und für das Ruhrgebiet ergab eine Erhebung kürzlich, dass knapp 50 Prozent der Befragten den Namen des aktuellen FDP-Vorsitzenden Christian Lindner nicht kennen. Politik, so scheint es, ist nur noch eine halbe Sache.

Willkommen in der Gegenwart! In einer politisch eher verkehrsberuhigten Zone, verglichen mit den bewegten 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ja, früher war mehr Lametta. Das lag nicht nur daran, dass die Leute in einer gespaltenen, waffenstarrenden Welt lebten. In der Bundesrepublik vollzog sich damals der spannende Wandel zur modernen Gesellschaft.

Und heute: Das Land wird von einer Kanzlerin regiert, deren Stil die Wähler als entpolitisiert und präsidial wahrnehmen. Das war in diesem Ausmaß bei keinem ihrer Vorgänger der Fall. Die zweite große Koalition in Berlin hat bei beiden Partnern Spuren hinterlassen. Ihrem jeweiligen Profil ist das gar nicht gut bekommen. Die Liberalen? Sie sind zuletzt ein bisschen zu keck als Klientelpartei aufgetreten, haben nichts bewegt und diejenigen auf ganzer Linie enttäuscht, die große Hoffnungen in sie setzten. In einem Land wie Deutschland, in dem die Hälfte der rund 47 Millionen Haushalte keine Steuern aufs Einkommen zahlt, ist das Interesse naturgemäß gering, die Dinge groß zu ändern. Die Wohlstandsgesellschaft, der Umverteilungs- und Wohlfahrtsstaat haben eine soziale Sicherheit geschaffen, die zweifellos zu den tragenden Säulen dieses Gemeinwesens zählt. Zugleich aber ist ein Klima entstanden, das träge macht. Hart erkämpfte Freiheiten sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Das politische Engagement unserer Tage versinkt so zum einen in dieser Melange aus Lustlosigkeit und Verdruss. Zum anderen hat sich das Streben nach Freiheit grundsätzlich verändert: in eines nach individueller Selbstverwirklichung.

Willkommen in der postmodernen Gesellschaft!

War die vormoderne Gesellschaft durch Mangel geprägt und zeichnete sich die moderne Gesellschaft vor allem durch Leistung und Wohlstand aus, so geht es den Mitgliedern der postmodernen weniger um den dicken Scheck am Monatsende. Es geht ihnen vielmehr um eine möglichst ausgewogene Work-Life-Balance.

Statussymbole verlieren an Bedeutung, Spaß und Erleben treten an ihre Stelle. Organisationen, politische zumal, wirken nicht mehr so identitätsstiftend, wie sie es einmal taten. Soziale Beziehungen sind spontaner geworden, aber auch flüchtiger. Was zählt, ist die eigene Performance.

Die Generation jener, die Mauer und Stacheldraht im Kalten Krieg nicht mehr bewusst erlebten, konnte mit dem trügerischen Gefühl aufwachsen, das Ende der Ideologien, ja sogar das "Ende der Geschichte" sei erreicht. Aber dass die Geschichte nie endet, muss diese Generation wieder und wieder zur Kenntnis nehmen. Und auch, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind. Wachsamkeit, Verantwortung und Engagement bleiben ihr Preis. Martin Bewerunge

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