Ostern 2015 Erwacht

Düsseldorf · Als Kirchenfest ist Ostern mit jener Freude verbunden, an der die Skepsis hängt: Auferstehung aus dem Grab - ist das möglich? Zu Ostern wird die kindliche Freude des Glaubens maximal gefordert. Wir sollten sie zulassen, denn das Erwachen als kleinste Erlösung vom Tod erleben wir selbst - jeden Morgen neu.

Ostern 2015: Erwacht
Foto: dpa, pdz cul

"Das Grab ist leer, der Held erwacht" (Osterlied)

Manchmal erwachen wir nicht, wir werden der Nacht entrissen. Das ist ein himmel-, zuweilen höllenweiter Unterschied. Soeben befanden wir uns noch im Würgegriff eines leitenden Mitarbeiters im Büro oder wunderten uns über unseren Koffer, der auf dem Gepäckband in Neapel gar nicht ankommen konnte, weil er draußen am Flughafengebäude vorbeischwebte, wir erlebten also einen ganzen oder halben Alptraum - und plötzlich überkommt uns diese absurde Kreuzblende, wir wissen auf einmal nicht mehr, wo wir sind, wir forschen nach Spuren, die dieses Ringen von vor etwa zehn Sekunden in uns hinterlassen hat, wo ist der Mitarbeiter, wo ist der Koffer - nichts mehr davon ist ganz da, nur noch halb, wir sind nämlich erwacht, der Tag hat sich angekündigt und ist über uns gekommen. Er hat uns nicht gefragt, ob wir den Traum bis zur Neige auskosten wollen.

Manchmal ist das Erwachen eine Erlösung, als ob man dem Traum von der Schippe gesprungen ist; manchmal ist es betrüblich, weil der Traum schon vorbei ist. Meistens ist es unaufregend. Weil es einfach so passiert und vorher nichts Dolles geschah. So geht es uns täglich. Das Erwachen ist eine fabelhafte Sache, es entzieht sich der Kontrolle. Und es gibt Leute, die dann ihrem Herrgott danken, dass sie im Schlaf nicht gestorben sind. Mancher wird in der Tat vom Schlaf nicht mehr wach, er hat den leisesten Tod erlebt.

In diesen Tagen ist das Erwachen enorm mit Biologie, mehr aber noch mit Theologie behaftet. Das größte Erwachen des Christentums führt in die Sakristei unseres Glaubens. Da soll einer nach einem todsicheren Tod am dritten Tag nicht mehr im Grab gelegen haben. Nicht nur das: Es werden sich Leute melden, mit denen er post mortem geredet hat. Einige erkennen ihn an der Stimme und werden von einem Brennen im Herz erfüllt. Das Emmaus-Erlebnis! Aus solchen Berichten würden gewiefte Nachrichtenchefs ihre Breaking News machen: "Spektakulärer Fall von Auferstehung von den Toten! Galiläer (33) ist flüchtig. Hatte er eine Nahtod-Erfahrung?"

Vielleicht. Ob dieser Mann namens Jesus (laut seinem Kreuz einer aus Nazareth) überhaupt zweifelsfrei gestorben war, wird hier und da bezweifelt. Laut Johannes-Evangelium, Kapitel 19,33, wurde der mündliche Todesbericht von Soldaten übermittelt, die "sahen, dass er schon gestorben war". Also ein bloßer optischer Befund von Laien; so machte man das damals. Der Lanzenstich sagt nicht alles. Krisensichere Diagnostik gab es keine. Und auch heute versagt sie ja manchmal; so lasen wir dieser Tage von einer älteren Dame in Gelsenkirchen, deren Hingang ausgiebig beweint worden war, bevor sie beim Bestatter überraschend zu sich kam und die Augen aufschlug. Schlafes Schwester. Sie ist dann, zwei Tage später, aber doch gestorben, hoffentlich nicht vor Schreck über ihr Erwachen.

Beim Gottessohn sollten wir an einen außerplanmäßigen Zufall gar nicht erst denken, weil das Mysterium der Auferstehung ohne einen ordentlichen Tod vorher gegenstandslos ist. Zwar geht es hier nicht um das Wissen, sondern um den Glauben. Aber wollte wirklich ein Christ annehmen, Gott würde seinen einzigen Sohn über den Tod hinaus hängen lassen? Die Katholiken beschwören ihre Zuversicht in dieser Angelegenheit im Gottesdienst im mysterium fidei, also im "Geheimnis des Glaubens" direkt nach der Wandlung (von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi); sie sprechen: "Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit."

Das könnte eine Botschaft wie ein gigantischer Wachmacher sein, wie ein donnerndes Glockengeläut, das uns aufrüttelt - aber diese Wecker überhören wir ja gern, vor allem am Sonntag. Das hängt mit unserer Schläfrigkeit gegenüber unseren Christenpflichten zusammen, aber auch mit unserer Grundmüdigkeit: Am Sonntag will der Beschäftigungsbürger ausschlafen, deshalb zieht er den Stecker heraus. Jeder Schlafmediziner sagt, dass dieses Verhalten äußerst nachvollziehbar, aber ebenso unklug ist. Wer wochentags um 7 Uhr aufsteht, soll sonntags nicht bis in die Puppen im Bett liegen bleiben. Zur Strafe wird er am Montag zerschlagen aufwachen.

Erwachen, aufwachen, wach werden - herrjeh, wenn unser Körper in dieser Angelegenheit doch zuverlässiger wäre! Aber er ist es nicht, weil viele von uns Schlafsünder sind und sich ihre verkorkste Schlafarchitektur selbst einbrocken. Nicht jeder hat es so gut, dass er famos schläft und stets drei Minuten vor dem Wecker erwacht, um die Landplage abzustellen. Mancher wird auch nachts plötzlich wach, wälzt sich und seine Gedanken, starrt ins Dunkle, belauscht den Bettnachbarn, der monoton schnarcht, und treibt in Gedanken eine Schafherde über das Rheinufer bei Oberkassel. Dieser typische Insomniker schläft erst 20 Minuten vor dem Klingeln des Weckers zuverlässig ein und ist dann für den weiteren Tag nur mäßig zu gebrauchen. Bei beiden Schlafkranken sind die episodisch gebündelten und sich wiederholenden Zyklen des Schlafs gestört.

Was ist Tiefschlaf, was ist die Traumphase, was ist die REM-Phase (mit schnellen Augenbewegungen, den Rapid Eye Movements), was machen Herzfrequenz und Blutdruck? Bei Schlafkranken herrscht hier zuweilen das Chaos. Das ist doppelt wichtig zu wissen, weil niemand glauben sollte, der Schlaf sei eine Tranfunzel der Aktivität - im Gegenteil: Der Schlaf ist ein Verarbeitungsprozessor, der die Ressourcen zweier Tage optimiert. Den erlebten Tag registriert er, den folgenden Tag präpariert er.

Dass unser Erwachen morgens oft spektakulär verläuft, hat mit der Intensität unserer Träume zu tun, und niemand hat das so grandios beschrieben wie der unlängst verstorbene schwedische Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer, der diese Zeile hinterließ: "Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum." Ja, es kann tatsächlich ein Sturz aus schwindelerregender Höhe sein, und manchmal befürchtet man bei diesem Sturz, der Fallschirm könnte sich nicht öffnen. Wenn wir dann aufschlagen, dann in einem Bett, das die Spuren einer Schlacht zeigt. Diese Nacht ist kein Labsal gewesen.

Die Insomniker sind unter den Schlafkranken allerdings nicht die bedauernswertesten, andere Leidensgeschichten sind dramatischer - etwa die Narkoleptiker mit ihrer absurden Tagesmüdigkeit, denen manchmal die Muskeln nicht mehr gehorchen und die aus dem Stand fallend einschlafen. Oder die Restless-Legs-Fälle, denen die Beine zu kribbeln beginnen, sobald sie in der Horizontalen liegen. Nicht so imposant, aber für den Schlafenden erregend ist die Schockstarre bei der Nachtangst (pavor nocturnus), die ihn meist in der ersten Stunde (während der Nicht-REM-Phase) übermächtigt und ihn schwitzen, herzrasen und wimmern lässt - bis der Kandidat aufwacht, sich sogleich wendet, ruhig einschläft und sich am nächsten Morgen an nichts erinnert.

Die Tiefe des Schlafs ist eine widersprüchliche Dimension. Auch beim besten, gesündesten Schlaf gibt es Momente des Wachwerdens, denen ein sofortiges oder allmähliches Einsinken folgt. Ist dieser Zeitraum kürzer als drei Minuten, erinnert man sich am nächsten Tag nicht mehr daran. Bei manchen Menschen macht der Körper die Nacht indes zum Tage, etwa bei den Patienten, die an Schlafapnoe laborieren: Die erleiden nachts etliche Atemaussetzer, die ihren Körper so in Wallung versetzen, dass er im Schlaf erwacht. Diese sogenannten arousals können sich etliche Male wiederholen, wodurch der Schlafende (anders als sein Körper hat er wieder mal nichts bewusst mitbekommen) am Morgen bematscht aufwacht, eigentlich weiterschlafen könnte, aber sich ans Steuer setzt und im Sekundenschlaf einen Auffahrunfall baut. Der kann glimpflich enden, aber der Körper merkt sich jedes Arousal, jeden nächtlichen Harndrang, jeden gefährlichen Schnaufer: Fürs Herz ist das Schlafapnoe-Syndrom Gift.

Nun sind wir aber unösterlich abgeschweift, denn eigentlich ist zum Zagen kein Anlass, auch Orkan Niklas scheint seinen Blasebalg in den Keller zu bringen. Ostern als der schönste Grund zur Freude ist heute zum Greifen nah, die Zeitumstellung steckt nicht mehr in unseren Gliedern, draußen recken sich die Blumen, Frühlings Erwachen ist nur noch bei Frank Wedekind eine Tragödie, den Frühling riecht man niemals besser als jetzt beim Aufwachen, da der Morgen noch kühl ist, aber die Sonne schon willig. Mancherorts liegt noch der Frost über den Feldern, aber es ist unleugbar, dass alles derzeit erwacht. Unsere biologische Uhr bekommt neue Funkimpulse. Wir wollen wieder gesund leben, haben wir uns gelobt. Jetzt heißt es: Erwachen! Eigentlich einfach, das ist ja das Dilemma. Erwachen kennen wir, darin haben wir Routine. Wir sollten es begrüßen, als Feier des Lebens. Und was uns in der Nacht plagt, schaffen wir uns vom Halse und packen es unters Bett. Im Verstecken sind wir zu Ostern geübt.

(wg)
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