Essay Die Gier in uns

Düsseldorf · Manager-Boni, Politiker-Gekungel und zuletzt das Dortmund-Attentat: Die Gier diktiert unser Handeln bisweilen mehr und oft verdeckter, als uns lieb ist. Dabei zählt sie zu einer der sieben Todsünden.

 "Die Zeiten sind halt so": Onkel Dagobert badet gerne im Geld.

"Die Zeiten sind halt so": Onkel Dagobert badet gerne im Geld.

Foto: dpa

Boni für Manager in Millionenhöhe, selbst dann, wenn das von ihnen geführte Unternehmen den Bach runtergeht. Präsidentschaftskandidaten, die darüber stolpern, ihre Ehefrauen mit einer Scheinbeschäftigung zu versorgen - wie jüngst in Frankreich. Schließlich - und schockierend perfide: ein Bombenanschlag auf die Mannschaft von Borussia Dortmund, in der grausamen Hoffnung, mit dem Tod vieler Spieler einen Haufen Wettgeld kassieren zu können.

Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Es sind - in unterschiedlich radikalen Abstufungen - Verhaltensweisen, die dem Marktprinzip unseres Wirtschaftssystems geschuldet zu sein scheinen. Die Suche und Sucht nach Gewinn und Vorteil, deren Antrieb die Habgier ist. Und wenn Fälle extremer oder wenigstens prominenter Gier öffentlich werden, hat das allemal das Zeug zum Skandal. Doch die Gier hat viele Gesichter, vielleicht besser: Fratzen. Und immer sind es die Fratzen der anderen. Dabei stehen gerade wieder die Steuererklärungen an, und die sind ein gefundenes Fressen, sich seiner eigenen Vorteilsnahme zu widmen. Schummeln bei Steuererklärungen ist keine Ausnahme, es ist ein Volkssport. Die Steuergewerkschaft schätzt vorsichtig, dass Jahr für Jahr 30 Milliarden Euro an Steuern hierzulande hinterzogen werden.

Zwischen dem kleinen Steuerbetrug und dem Attentat liegen Welten. Der Antrieb des Handelns aber entspringt vergleichbaren Wurzeln - der Gier. Dabei ist es ein Leichtes, die Gesellschaft und den Kapitalismus als Ursache heranzuziehen. Als Versuch, die Verantwortung für unser Handeln von uns zu weisen, nach dem Motto: Die Zeiten sind halt so und die Verhältnisse auch.

Aber es gibt Belege, dass "die Zeiten" schon immer oder doch so ähnlich waren. "Jubiläums-Luther" veröffentlichte seinen Kleinen und kurz darauf noch "Großen Sermon vom Wucher". Darin prangert der wortgewaltige Reformator nicht nur die Habgier in der ganzen Welt an, sondern auch, dass viele sich einen "Deckmantel suchen, worunter sie ihr böses Tun ungehindert ausüben". Das Evangelium jedenfalls werde nicht geachtet. Und das aus gutem Grund, schließlich sind dort bei Lukas und Matthäus die Jesus-Worte zu lesen: "Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes"; sowie: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt."

So fand die Gier Aufnahme in den Katalog der sieben Todsünden - neben Trägheit, Neid und Wollust, Hochmut, Zorn und Völlerei. Interessanterweise ist die Liste der Verfehlungen kein Gottesgebot, wie der Dekalog, sondern Menschenwerk: ein Mittel zur Disziplinierung der christlichen Bevölkerung im Namen einer höheren Moral. Ersonnen hat die Liste im vierten Jahrhundert der Mönch Euagrios Pontikos; und Papst Gregor überführte sie im sechsten Jahrhundert in den Katalog der Hauptlaster.

Strenge Handlungsanweisungen sind sie in unserer säkularisierten Welt längst nicht mehr; sie haben als moralische Leitplanken unseres Lebensvollzugs größtenteils ausgedient. Sich ihrer zu erinnern, kann allenfalls als Balance zwischen Ideal und Wirklichkeit dienlich sein. Und wer wollte heutzutage ernsthaft dem Schnäppchenjäger eine Todsünde unterstellen?

Die Todsünde als moralischer Wegweiser deutet an, dass die Neigung zur Gier ein Wesenszug des Menschen sein kann. Auch deshalb hat die Gier vor allem etwas mit uns selbst zu tun, mit unserer Vorstellung eines Zusammenlebens. "Denn was heißt die Gier anderes als: Ich frage nicht nach meinem Nächsten", schreibt der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer. Auch in dem einzigen Gebet, das Jesus lehrte, ist nicht von Besitz und Besitzvermehrung die Rede, sondern die Bitte "um unser tägliches Brot". Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Frage nach der Gier bleibt daher eine Frage, die wir immer an uns selbst richten. An unser eigenes Tun. Für die Antwort auf die Frage, warum man gierig ist, gibt es keine Ausreden, keine Instanzen oder Gesellschaften, die als Schuldige oder Verantwortliche herangezogen werden könnten. Pech gehabt. In diesem Sinne ist die Gier aber auch ein guter Lehrmeister. An ihr kann sich eigenverantwortliches Handeln erweisen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass mein Handeln Folgen hat; für mich wie für andere.

Manchmal sind solche Folgen leicht ersichtlich, manchmal versteckt, wirksam nur unter Oberfläche und daher besonders gefährlich. Zum Beispiel bei der Geldwirtschaft. Wie sehr sich diese verselbstständigt hat und gar zum Selbstzweck mutierte, wird anschaulich beim Zins. Denn der lässt weniger unser Geld arbeiten, als vielmehr das Unverfügbare: die Zeit. Zinsen, so der Historiker und Religionswissenschaftler Aviad Kleinberg, "werden für nichts anderes bezahlt als für das Verrinnen der Zeit". Mit dem Zins wird die Zeit zu Geld und schließlich in Gewinn verwandelt.

Das aber ist so abstrakt und so losgelöst von einer erfahrbaren Wirklichkeit, dass es fatalerweise leicht fällt, es zu ignorieren. Auch das ist eine Art Deckmäntelchen, unter dem die Gier fast überall wirksam ist. Die Gier ist darum selten nur eine Gier der anderen.

(los)
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