Anonymer Tod Das Sterben der anderen

Berlin · Der Nachbar von Jan Philip Welchering ist seit Monaten tot, als die Polizei die Wohnung freigibt, in der er lange unbemerkt gelegen hatte. Der Fotograf tritt ein und versucht, dem alten Mann nachträglich nahe zu kommen.

Duschgel, Poster und Pistolen – Die letzten Spuren eines Toten
9 Bilder

Duschgel, Poster und Pistolen – Die letzten Spuren eines Toten

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Foto: Jan Philip Welchering

Im traurigsten Fall endet ein Leben nicht nur ohne Trauer — sondern sogar ohne Klarheit über den Namen dessen, der vor seinem Tod doch jahrzehntelang gelebt hatte. In diesem Fall ist es ein osteuropäischer Name, polnisch vielleicht, in den Akten der Berliner Polizei endet er auf "y", in den Telefonbüchern der Hauptstadt auf "i". Mit "i" schreibt ihn auch sein Nachbar, der sich wiederum nicht an dessen Vornamen erinnern kann. Aber wenigstens hat Jan Philip Welchering (34) die allerletzten Spuren des Mannes für die Nachwelt festgehalten, der in einem Altbau ohne besondere Merkmale im Ortsteil Wedding lebte, wo Alkoholiker durch die Straßen taumeln und in Wettbüros Schüsse fallen, wo aber auch junge Familien wohnen, unter denen manchmal alte Männer wohnen, die sterben, ohne dass es jemandem auffällt.

Bis das, was von ihnen geblieben ist, anfängt zu riechen, und zwar anders als der Lack im frisch renovierten Treppenhaus, anders als alles andere.

Aufgebrochenes Polizeisiegel

Auf dem alltäglichen Weg von seiner Wohnung im zweiten Stock zu seinem Studio ein paar Straßen weiter hatte der Fotograf gesehen, dass das violette Polizeisiegel aufgebrochen war, das den Zugang zur Wohnung im ersten Stock rechts, genau unter seiner eigenen für zweieinhalb Monate versperrt hatte. Die Entrümpler waren da, schon halb fertig, sie machten Mittagspause und ließen ihn schulterzuckend für ein paar Minuten rein. Welchering ist das Gegenteil eines hartgesottenen Hauptstadt-Polizeireporters. Der höfliche Schlaks ist in Borken geboren und lebt von bunten, oft brüllend komischen Porträtfotos für den "Spiegel", "11 Freunde" oder das "Arte Magazin".

Ohne Auftraggeber enstand die <u>Bilderserie "1. OG rechts"</u>, zweieinhalb Monate, nachdem die Leiche des Mannes in seiner Wohnung entdeckt und abtransportiert worden war — wer weiß wie viele Wochen nach dessen Tod. Von einer "zufälligen" Entdeckung könnte man sprechen, aber selbst das wäre noch beschönigt. Entdeckt wurde seine Leiche, weil der von ihr ausgehende Geruch immer intensiver wurde. Als ihn auch Hausmeister und Handwerker mehrfach nicht erreichten, um ihm mitzuteilen, dass im Zuge der Renovierung des Treppenhauses auch seine Wohnungstür neu gestrichen würde, brachen sie diese Tür auf.

"Ohne groß nachzudenken"

Entdeckt wurde er also, weil er die Abläufe störte, die nicht ohne ihn weiterliefen wie die Zahlung von Miete, Strom- und Wassergebühren. Verwandte oder Freunde konnte die Polizei nicht ermitteln, was keinen überraschte.

"Ohne groß nachzudenken" habe er sich durch die Wohnung bewegt, sagt Welchering. "Sie ist geschnitten wie unsere darüber, knapp 100 Quadratmeter mit Küche, Bad, Flur und drei Zimmern." Spannend und irgendwie beklemmend sei es gewesen, erinnert er sich — nicht aber gruselig, weil es ihn an seine eigene Wohnung erinnert hätte, exakt am selben Ort auf dieser Erde, bloß vier, fünf Meter darüber.

"Im Gegenteil", sagt er, "der Kontrast hätte nicht größer sein können": Unten war alles düster und gedrungen, die hohen Altbaudecken abgehängt, die Wände nicht hier und da gezeichnet durch die Anwesenheit eines munteren Kindes, sondern komplett verfärbt vom Nikotin des kettenrauchenden Bewohners. Und dazu diese Bilder — vom weinenden Kind in Öl bis hin zum unsäglich kitschigen Sonnenuntergangs-Poster.

Den Bewohner dieser Wohnung beschreibt Welchering als 70 bis 80 Jahre alt, nicht unähnlich dem Kneipengast "Schildkröte" in der Serie "Dittsche" mit Olli Dittrich. Gesehen hat er ihn nur selten, im Treppenhaus. Miteinander gesprochen haben sie nur einziges Mal. "Beim Einzug habe ich mich vorgestellt", sagt der Fotograf. "Daraufhin begann er sofort, auf unsere Vormieterin zu schimpfen, deren Kind so unerträglich laut gewesen sei. Außerdem beschwerte er sich über die vielen Ausländer überall." Seine Reaktion? "Ich habe ihm gesagt, dass ich einen Sohn habe — mit meiner Frau, die keine Deutsche ist, und ihm einen schönen Tag gewünscht."

Keine Betroffenheit heucheln

Entsprechend wenig berührt ihn das Schicksal des Mannes, den er als Griesgram wahrnahm — ganz im Gegensatz zu einem weiteren betagten Nachbarn, der Welchering häufig von Spaziergängen und Kartenspielabenden erzählt. Etwas näher fühle er sich ihm nach dem Besuch seiner Wohnung schon, sagt der Fotograf, doch fremd bleibe er ihm nach wie vor. "So wenig ich über meinen verstorbenen Nachbarn spekulieren möchte, so wenig möchte ich auch Betroffenheit heucheln, die ich so nicht spüre." Einsamkeit sei aber immer etwas sehr Trauriges. "Und dass er einsam war, ist naheliegend."

Pietätlos findet Welchering sein Vorgehen nicht. Natürlich habe ihn interessiert, wie es nach dem Abrücken der Polizei in der Wohnung aussah, gibt er zu: "Ich bin bestimmt nicht der einzige, der mal versucht hat, durch den Briefschlitz hinein zu linsen." Einmal in der vollen, aber nicht vermüllten Wohnung, entscheidet er sich, vor allem Details zu fotografieren. Vieles überrascht ihn, vor allem die babyblaue Tapete mit Schäfchenwolken im Schlafzimmer des alten Mannes. Und die zwei Schusswaffen, die ihm ins Auge fallen. Das Foto davon ist eines der beiden, die Welcherings Freunde dazu bringen, ihm einen Bluff zu unterstellen, einen selbst kreirten urbanen Mythos mit Gruselfaktor. Das zweite zeigt ein Kärtchen mit der Aufschrift "HEISSE SPUR — Fahndungskarte".

Bei genauerem Waffen stellen sich die Waffen als Gaspistolen heraus und das Kärtchen als Teil eines Gesellschaftsspiels von 1980. Umso näher liegt der Verdacht, es handle sich um eine Art Kunstaktion, doch Welchering schwört: "Ich habe alles genau so vorgefunden, nichts inszeniert, nichts gestellt."

Ein Ziel, geschweige denn einen Plan habe er nicht gehabt, sagt Welchering. Im Nachhinein hat er aber einen gefunden. Die Wohnung wird derzeit kernsaniert, schon bald wird nichts mehr an ihren vorherigen Mieter erinnern. "Die allerletzten Spuren habe ich noch festgehalten. Die banalen Reste der traurigen Ästhetik dieser trostlosen Wohnung." Manches technisch gelungene und aussagekräftige Bild wird er absichtlich nicht veröffentlichen, aus Bedenken, es könnte zu intim sein und den Verstorbenen bloßstellen. "Mich hat die Ungewissheit fasziniert: War es Mord, Suizid oder einfach nur ein Herzinfarkt? Um das Morbide, um den Schockeffekt ging es mir nicht." Was wirkt wie ein riesiger Blutfleck an der Decke [in unserer Fotostrecke nicht enthalten, aber im Original; Anm. d. Red.], könnten auch bloß nie weggewischte Rotweinflecken sein, betont er. "Die Auswahl und Reihenfolge meiner Fotos legt natürlich eine Geschichte nahe — wie viel die mit der Realität zu tun hat, weiß ich aber nicht."

Nicht mal mehr einen Namen

Die Polizei hat keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung festgestellt: Kapitalverbrechen ausgeschlossen, Obduktion überflüssig. Der Mann im Mittelpunkt dieser Geschichte hat jetzt nicht einmal mehr einen Namen, über dessen Schreibweise gestritten wird — sondern nur noch ein anonymes Grab und das Aktenzeichen 234 UJS 731/16.

(tojo)
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