Gastbeitrag Bildung rechnet sich

Düsseldorf · Die erste Pisa-Untersuchung 2000 stellte dem deutschen Schulwesen ein vernichtendes Zeugnis aus. Es hat Fortschritte gegeben. Aber die größte Aufgabe bleibt: eine Totalrenovierung des Systems. Jetzt.

 Das deutsche Bildungssystem benötigt eine Totalrenovierung, sagt Jürgen Kluge.

Das deutsche Bildungssystem benötigt eine Totalrenovierung, sagt Jürgen Kluge.

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Eines der zentralen Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft lautet, dass sie allen Menschen gleichermaßen die Chance auf ökonomischen Erfolg gibt. Nicht soziale Herkunft oder staatlicher Dirigismus sollen über die wirtschaftlichen Ergebnisse entscheiden, sondern die eigenen Fähigkeiten in einem fairen Wettbewerbsprozess. Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle." So schrieb die Stiftung Marktwirtschaft in einer Studie 2012, und das galt in den Aufbaujahren nach dem Krieg genauso wie auch heute bei der Integration der Migranten.

 Unser Autor.

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Lösen wir dieses Versprechen ein? Mit den Plätzen 20 beziehungsweise 21 bei 32 teilnehmenden Ländern trafen die ersten Pisa-Vergleichszahlen ins Mark unseres Selbstverständnisses als Kulturnation. Mahnungen, Klagen und Forderungen hatte es schon vorher gegeben. Aber erst Pisa machte die Misere zum Medienereignis.

Die Ergebnisse stellten dem deutschen Schulwesen ein vernichtendes Zeugnis aus. Zum Beispiel: 15-jährige Schüler in Deutschland verstanden Texte schlechter als ihre Altersgenossen in fast allen anderen vergleichbaren Nationen. In Naturwissenschaften und Mathematik lag ihr Können klar unter dem Durchschnitt. Bei nahezu einem Viertel der deutschen Schüler kam ihre Fähigkeit zu lesen und zu rechnen nicht über das Grundschulniveau hinaus. Nirgendwo waren Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülern so groß wie bei uns. Bei der Zahl der Sitzenbleiber waren wir einsame Spitze. Von den Jugendlichen aus Migrantenfamilien schaffte nur jeder Zehnte das Abitur, jeder Fünfte verließ die Schule ohne einen Abschluss.

Und heute?

Es hat Fortschritte gegeben. Aber noch immer besteht ein beträchtlicher Rückstand zur jeweiligen Spitzengruppe. Im Jahr 2010 verließen 6,6 Prozent der Schüler die Schule, ohne zumindest einen Hauptschulabschluss zu erreichen. Zwar ist dieser Anteil deutlich gesunken. Aber das deutsche Bildungssystem schafft es weiterhin nicht, allen Kindern und Jugendlichen vergleichbare Chancen zu eröffnen. Bildungsergebnisse werden stark von der sozialen Herkunft beeinflusst. So haben in Deutschland Kinder mit einem vorteilhaften sozialen Hintergrund eine vier- bis fast sechsmal so hohe Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, wie Kinder aus Familien am unteren Ende der Verteilung sozialer Herkunft - bei gleichem Kompetenzniveau. Bereits die Grundschulempfehlung für die weiterführende Schule wird im Durchschnitt erheblich von der sozialen Herkunft der Kinder beeinflusst.

Während 71 von 100 Kindern aus Akademiker-Familien ein Studium aufnehmen, sind es bei Nicht-Akademiker-Familien nur 24. Länder wie Finnland, Korea oder Kanada aus der Pisa-Spitzengruppe zeigen hingegen, dass kein Widerspruch zwischen hohem durchschnittlichen Leistungsniveau und einem geringen Einfluss der sozioökonomischen Herkunft bestehen muss.

Die Unternehmensberatung McKinsey hat die Zusammenhänge von gutem Pisa-Abschneiden und der inhaltlichen Ausgestaltung des Bildungssystems analysiert und auf acht wichtige Gütefaktoren für ein Schulsystem hingewiesen: eine differenzierte Förderung des einzelnen Schülers durch individuelle Lehrpläne und Kleingruppenförderung innerhalb des Klassenverbunds; eine spätere institutionelle Differenzierung nach Schultyp, die begabte und weniger begabte Schüler länger innerhalb eines Klassenverbundes belässt; eine konsequente Qualitätsmessung und -sicherung, die bei Schülern und Lehrern gleichermaßen ansetzt; eine hohe Eigenverantwortlichkeit der Schulen, die Schulleitern und Lehrern Handlungs- und Verbesserungsspielräume eröffnet; ein motivierendes Anreizsystem, das Lehrer für Engagement und Leistung belohnt; eine gute finanzielle Ausstattung der Primarschulen, die mit modernen Lehrmitteln ein vielfältiges Lernumfeld schaffen; eine vorbildliche frühkindliche Bildung, zum Beispiel durch ausreichende Versorgungsgrade und gut ausgebildetes pädagogisches Personal, und ein forderndes Elternhaus, das Kinder nicht nur finanziell, sondern auch durch Diskussionen und Wissensaustausch unterstützt.

Was ist heute noch zu tun? Wir müssen das bestehende Bildungssystem systematisch umbauen. Pilotprojekte und einzelne Korrekturen hier und dort dürfen nicht länger als Alibi dienen, die Totalrenovierung weiter hinauszuzögern. Das gilt gerade und besonders jetzt, wo unser Bildungssystem seinen Beitrag zur Integration eines sehr hohen Migrantenzustroms leisten muss.

Der Umbau müsste vier Konstruktionselementen folgen:

1. Früh investieren statt spät reparieren. Je sorgfältiger das Fundament gelegt, je besser die Grundausbildung ist, desto weniger teure und zeitaufwendige Korrekturen werden erforderlich.

2. Mehr soziale Gerechtigkeit durch Qualität. Leistungsorientierung, Wettbewerb, Eliteförderung auf der einen und soziale Gerechtigkeit auf der anderen Seite bilden keinen Widerspruch, sondern bedingen einander. In der irrigen Annahme, dadurch die sozial Benachteiligten zu fördern, haben wir unsere Bildungseinrichtungen auf unteres Mittelmaß getrimmt und damit den Leistungsschwachen, aber auch den Leistungsstarken Chancen verbaut. So stehen wir in Wahrheit mit leeren Händen da: Unsere Bildung ist weder exzellent noch sozial gerecht.

3. Weitergehende Autonomie bei vorgegebenen Qualitätsstandards. Wenn wir von unseren Kindern ein selbstverantwortliches, selbst gesteuertes Leben erwarten, dann müssen unsere Bildungseinrichtungen dies vorleben. Sie müssen sich selbst steuern und für die Resultate ihrer Arbeit in die Verantwortung genommen werden können. Während der Bund überprüfbare Minimalstandards vorgeben sollte, müssen die Kitas, Schulen und Hochschulen ihre Praxis in Eigenregie gestalten dürfen.

4. Bildung als Investition. Wir müssen ein anderes Verständnis von Bildung entwickeln. Bildung ist keine Kosten verursachende Versorgungsleistung, die allein der Staat zu erbringen hätte, sondern - sowohl individuell als auch gesellschaftlich - eine Investition, noch dazu eine sehr lukrative.

Bildung rechnet sich.

(RP)
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