Allerheiligen Familien brauchen das Erinnern

Düsseldorf · An Allerheiligen gedenken Christen weltweit der Gläubigen, die vorbildlich gelebt haben. Für Familien ist das Anlass, auf den Friedhof zu gehen und von jenen zu erzählen, die nicht mehr da sind. Eine schützenswerte Tradition.

13 Fakten: Wissenswertes zu Allerheiligen
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13 Fakten: Wissenswertes zu Allerheiligen

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Foto: dpa, Patrick Seeger

Am Sonntag kommt wieder Bewegung in Familien: Verwandte spazieren gemeinsam auf den Friedhof, sie sammeln sich an den Gräbern der Menschen, die einmal zum Familienkreis gehörten, die liebenswerte und manche schrullige Eigenschaft besaßen, unverwechselbar waren - und nun fehlen. Und vermisst werden.

Kerzen werden entzündet, Sträuße in Bodenvasen zurechtgezupft, die neuen Herbstmäntel und Lederstiefel bewundert. Doch dann wird es plötzlich ernst. Alle schweigen, gönnen einander einen Moment der Stille, der Einkehr und des Erinnerns. Aus dem Gedächtnis tauchen dann Bilder der Verstorbenen auf, Szenen werden lebendig, Geschichten werden wach. Und später, am Kaffeetisch, wenn die Sahne geschlagen, ein Cognac getrunken ist, kann das Erzählen beginnen: Vom Urgroßvater, der sonntags immer Weste trug und eine goldene Uhr in der Tasche. Oder von der Tante, die nie eigene Kinder hatte, aber immer Zuckerstücke in der Tasche - fürs Pferdefüttern beim Spazierengehen mit den Nichten. Oder von damals, kurz nach dem Krieg, als die Oma bei den Bauern Selbstgenähtes gegen Speck und "gute Butter" tauschte.

Allerheiligen ist kostbar für Familien

Allerheiligen ist ein Fest des Erinnerns und des Erzählens - und darum kostbar für Familien. Die Kirche lädt an diesem Hochfest im November ein, der Heiligen der vergangenen Jahrtausende zu gedenken. Auch von ihnen wird erzählt in der Bibel und in Legenden. Ihre Geschichten machen lebendig, was entschlossene Nachfolge Jesu bedeutet. Und dass das ethische Gerüst, auf dem wir heute leben, mit Leid erkämpft worden ist.

Alle Religionen kennen Lebensgeschichten vorbildlicher Gläubiger. Sie bieten Orientierung. Sie sind auch ein kultureller Schatz, der sich öffnen lässt, etwa, wenn Eltern einen Heiligen zum Namenspatron ihres Kindes machen - und ihm damit auch die Lebensgeschichte eines ungewöhnlichen Menschen mit auf den Weg geben. Allerheiligen feiert diese Bekenntnisse und Erzählungen über die Toten.

Daraus hat sich der Brauch des Friedhofsgangs ergeben, der für manche Familien immer noch so wichtig ist wie das Treffen an Weihnachten oder Ostern. Vielleicht sogar wichtiger, denn an Allerheiligen droht kein Konsumterror, keine Geschenkeschlacht. Es geht viel unbeschwerter und ausschließlicher um die Begegnung, das Wiedersehen im Familienkreis, ums Gestern und ums Heute.

Allerheiligen - ein Feiertag, der sich nicht beweisen muss

Natürlich können Familientreffen auch schon im November anstrengend sein. Wenn Verwandte zusammensitzen, treffen auch Erwartungen, Lebenseinstellungen und Temperamente aufeinander, wird verglichen, gewertet, manchmal auch gestritten. Allerheiligen aber hat eine gelassene Atmosphäre. Dieser Feiertag muss sich nicht beweisen, muss mit keiner Inszenierung etwa aus dem Film mithalten, muss nicht der heimeligste Tag des Jahres werden. Allerheiligen ist bescheidener und gedämpfter. Das Fest gehört ja eigentlich denen, die nicht mehr dabei sind, die darauf angewiesen sind, dass sie nicht vergessen werden, dass sie zurückkehren können in ihre Familien - durch die Geschichten, die man von ihnen noch zu erzählen weiß.

Darum ist auch das Erzählenkönnen so kostbar. Nur wenige beherrschen die kleine Form der Anekdote wirklich, doch im Kreis wohlmeinender Verwandter kann sie gepflegt werden. Allerheiligen, das ist auch ein Fest des Unmittelbaren, des Analogen. Die "Wisst ihr noch...?"-Geschichten sind der Schatz der Familie. In ihnen scheint auf, welche Charakterzüge und Begebenheiten bedeutsam sind, was bewundert wird, was bekrittelt, worüber gelacht. Kinder wachsen da hinein. Sie hören vom Onkel, der der Liebe wegen nach Amerika ging und sein Glück machte. Oder vom schwarzen Schaf, das schon als Kind nur Flausen im Kopf hatte, später Schulden machte und windige Geschäfte. Das Temperament von Familien wird da erkennbar, Moralvorstellungen werden weitergegeben, Toleranzrahmen abgesteckt.

Erinnern kann auch schwierig sein

Natürlich können die auch eng sein. Zu eng. Dann werden in den Familienerzählungen Engstirnigkeit und Vorbehalte weitergegeben. Es kann schwer werden, sich dagegen aufzulehnen, sein Anderssein zu behaupten. Doch selbst, wenn es Krach geben muss zwischen den Generationen, ist es doch wertvoll zu wissen, woher man stammt, in welchen Kosmos man geboren wurde - woran man sich reibt. Die Lebenswege der Toten nicht ins Vergessen gleiten zu lassen, fördert aber die Toleranz in Familien. Denn in jedem Leben gibt es Brüche, Fehlversuche, Rebellion. Und die Alten, die das wissen, sind meist die Mildesten, bereit für den Wandel, den alle Gesellschaften, alle Familien durchleben.

"Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält", hat der Schriftsteller Max Frisch geschrieben. Das Erinnern ist kein objektiver Prozess, das zeigt auch die Gedächtnisforschung. Der Mensch schöpft selektiv Informationen aus seinem Gedächtnis, die zu seinen Empfindungen passen. Er drückt dem Erinnerten aktuelle Stimmungen auf, vermeidet kognitive Dissonanzen, also Widersprüche zu dem, was er sonst denkt und fühlt. So formt jeder die Geschichte seines Lebens, erzählt sich selbst, wer er ist.

Bei Familientreffen passiert das auch im Kollektiv. Und obwohl dieses Zusammensitzen um den Kaffeetisch in einer Zeit virtueller Netzwerke und internetbasierter Freundschaftsgruppen behäbig, altmodisch, überflüssig erscheinen mag, ist es doch eine schützenswerte Sitte. Heimat ist, wo man die Toten kennt, heißt es. Wir leben in Zeiten, da immer mehr Menschen diese Vertrautheit verlassen müssen. Was ihnen bleibt, ist, in ihren Familiengeschichten daheim zu sein und weiter von ihren Toten zu erzählen - auch in der neuen Heimat. Allerheiligen sollte auch ein Fest des Zuhörens sein.

(dok)
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