Ein scheinbar unheimliches Datum 9. November - ein deutscher Schicksalstag

Düsseldorf · Fünf wichtige historische Ereignisse fallen auf dieses scheinbar unheimliche Datum. Doch die Geschichte ist kein Menetekel.

Ein Schicksalstag für Deutschland
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Foto: ddp

Am 9. November ist — europaweit — der Tag der Erfinder. Bei dieser Aussage dürfte jeder erwachsene Deutsche, bei dem die herkömmliche Schulbildung nicht gänzlich ohne Folgen geblieben ist, zusammenzucken.

Tag der Erfinder? Ein Gedenktag also für all jene, die mit pfiffigen Ideen unsere Welt vorangebracht haben? Gegen eine solche Sicht in die Zukunft stellt sich uns machtvoll die Vergangenheit entgegen, die deutsche Vergangenheit.

Ist das nun ein übertriebener Reflex, also eine Walsersche Moralkeule, mit der wir uns als aufgeklärte Europäer nun selbst und vorauseilend traktieren? Was sich in der deutschen Geschichte immer wieder an diesem Kalendertag seit 1848 ereignete, sind aber nicht nur irgendwelche historische Ereignisse.

Im Guten wie im Bösen

Über eine Distanz von mehr als 160 Jahren stehen sie in einem Zusammenhang, indem sie das Ringen der Deutschen um Demokratie und Freiheit spiegeln: im Guten wie im Bösen und zudem im Wechselspiel.

Die Hinrichtung des Frankfurter Abgeordneten Robert Blum erzählt von der blutigen Niederschlagung eines ersten Parlamentarismus auf deutschem Boden; die Revolution in Berlin am Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs 1918 werden zum Ausdruck einer freiheitlichen und demokratischen Gesinnung; 1923 dann versucht Adolf Hitler gemeinsam mit General Ludendorff einen Putsch in München.

Auch wenn dieser scheitert, das Ereignis wirft doch ein frühes finsteres Licht auf jenen 9. November des Jahres 1938, an dem die Nazis die Synagogen in Deutschland anzünden. Der letzte 9. November in dieser Reihe ist dann einer der erfreulichsten: Die Mauer in Berlin fällt, es ist die Voraussetzung dafür, dass Ost- und Westdeutschland wieder eine Nation werden.

Geschichte wird plötzlich zu einer Art Orakel

Das solche Marksteine sich am 9. November immer wiederfinden, erscheint uns natürlich mysteriös, unheimlich. Geschichte ist dann nicht mehr der erinnerte Ablauf von Ereignissen, die manchmal berechenbar, manchmal unberechenbar sind. Geschichte wird plötzlich zu einer Art Orakel. Als stünde eine fremde und vor allem höhere Macht hinter all dem und würde die Geschicke der Deutschen irgendwie lenken.

Eine solche Ahnung aber ist gefährlich. Weil sie zu lehren scheint, dass das deutsche Volk eine Schicksalsgemeinschaft ist, eine mystische Nation, die so handelt, weil ihr dieses Handeln aufgetragen wird. Als müsse sich im fürchterlichen Untergang wie in der Auferstehung ein Auftrag oder auch ein Menetekel erfüllen.

Eine solche Sicht formt eine gefährliche Erinnerungskultur: Denn wenn unsere Taten an andere und unbeschreibbare Kräfte delegiert werden, erscheinen sie uns, den bloß Ausführenden, als unabwendbar. Mit zwei Folgen: Zum einen kann sich ein Fatalismus breitmachen, der jede Gestaltungskraft des Einzelnen verneint. Zum anderen aber kann sich jeder auf diese Weise von Schuld freisprechen. Es handelt sich dann wirklich nicht um Täter, schlimmstenfalls um ahnungslos Verstrickte.

Der Nutzen historischer Darstellungen

Geschichte und geschichtliches Denken aber haben nichts mit Schicksal zu tun. Es sind immer die Menschen, die handeln, die Fehler begehen oder genau das Richtige tun. Die Geschichte kennt Schuldige, Opfer, Gerechte. Aber auch wie wir Geschichte betrachten und wahrnehmen, liegt in unserer Macht.

Der österreichische Philosoph Rudolf Burger hat dazu eine bedenkenswerte Aussage getroffen: "Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte." Das heißt: Die scheinbar logische, zumindest chronologische Abfolge von Ereignissen ist stets auch etwas Konstruiertes — von uns zurechtgestellt, sortiert, eingeordnet, damit sie den folgenden Generationen greifbar und verständlich werden. Der Sinn der Vergangenheit kann immer nur nachgezeichnet sein. In manchen Fällen ist er ein inszenierter Sinn.

Auch aus diesem Grund haben sich Philosophen oft Gedanken gemacht über den Nutzen historischer Darstellungen. Arthur Schopenhauer (1788—1860) war ein ausgesprochener Geschichtsskeptizist. Und Friedrich Nietzsche attestierte der Geschichtsschreibung, dass diese zwar Wissen vermittle. Eine Wissenschaft mit allgemeingültigen Erkenntnissen aber konnte und wollte er in ihr nicht erblicken.

Wir brauchen keinen neuen Schauder

Natürlich gibt es dazu triftige Gegenargumente. Doch bleibt der hehre Anspruch, man könne aus der Geschichte lernen, bedenklich. Die Menschheit hat immer wieder furchterregende Kriege angezettelt, obwohl sie wusste, welche Folgen es hat.

Sie hat immer wieder die Menschenrechte verletzt, wohl wissend, welche Verbrechen sie damit begeht. Es gibt aber auch "Schulen" der Vergangenheit, in denen die historische Vernunft Eingang in den Lehrplan gefunden hat. Die Europäische Union ist zweifelsohne ein solcher Ort.

Als man nach einem neuen Feiertag suchte, der der deutschen Wiedervereinigung gerecht würde, diskutierte man auch über den 9. November. Man entschied sich dann für den 3. Oktober. Aus guten Gründen: Denn ein Nationalfeiertag würde den 9. November mit einer weiteren Bedeutung aufladen, würde das Datum mit seiner gefühlten Dramatik noch größer machen.

Wir brauchen keinen neuen Schauder. Nötig ist eine kühle Vernunft, weil die Kenntnis der Vergangenheit unsere Urteilskraft in der Gegenwart sichert. Dann macht auch der heutige Tag der Erfinder Sinn, der, so die Initiatoren, auch "zur Mitarbeit an unserer Zukunft aufrufen" soll.

(RP/csr/das)
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