Der Glücksbrief

W ir in Hinterpommern waren von den Russen überrollt, Menschen ohne jegliche Rechte. Die Vorräte gingen zur Neige, der letzte vergrabene Schinken war uns gestohlen worden. Von unserem Vater hatten wir seit Januar 1944 nichts gehört.

Aber ein kleiner Weihnachtsbaum sollte es wenigstens sein. Meine Mutter schickte mich und meinen kleinen Bruder mit einer Nachbarin in unseren Wald, der uns nun nicht mehr gehörte, ein Bäumchen holen. Als wir auf dem Rückweg waren, sahen wir unsere Mutti vor unserem Haus auf der Treppe stehen und mit etwas Weißem in der Hand winken. Wir liefen so schnell wir konnten zu ihr, Mutti kam uns entgegen, immer noch das weiße Etwas schwenkend. Es war ein Brief. Sie rief von weitem weinend: "Papi lebt, er lebt." Der Brief war seit Mai unterwegs gewesen. Es gab keine Postzustellung, er wurde wohl von Hand zu Hand weitergegeben. Der Brief kam aus Schleswig-Holstein. Dort war unser Vater in ein englisches Lazarett gebracht worden, nach Sibirien war er zu schwer verwundet. Unser Leben war zu der Zeit so voller Angst und Not, und dennoch war es unser glücklichstes Weihnachtsfest. Inge Trapp, Kaarst

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort