Unterwegs in Japans Städten Wunderliches aus dem japanischen Alltag

Tokio · Höflich, diszipliniert und ein wenig verrückt, so wirkt der Alltag in Japan in den Augen eines Besuchers aus Europa. Unser Autor Helmut Michelis besuchte auf Einladung des Außenministeriums in Tokio für zehn Tage mehrere japanische Städte. Eigentlich ging es um "harte Themen" wie Sicherheits- und Energiepolitik oder die Zukunft der Region Fukushima. Aber natürlich blieb auch etwas Gelegenheit zum neugierigen Umschauen.

So bunt ist der Alltag in Japan
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Teil 1: Schneewittchen und Atomkraft

Die zwei rotbäckigen Schneewittchen, die abends in der Schlange vor einem Theater anstehen, beachtet erstaunlicherweise niemand; das WC im Hotel ist ein technisches Wunderwerk mit beheizter Brille und warmem Wasser; der Therapie-Seehund für Senioren entpuppt sich als Roboter — manches ist eben doch etwas anders im knapp 10.000 Kilometer entfernten Japan. Und die ersten Blicke des Europäers gelten den unzähligen bunten und beleuchteten Getränkeautomaten, die es an jeder Straßenecke zu geben scheint.

Japaner lieben Mangas und Animes, die fernöstlichen Comics und Zeichentrickfilme — es ist deshalb unter jungen Leuten schick, sich als Superheld oder Märchenfigur zu verkleiden. Mit den bunten Comicfiguren wird auch überall breit Werbung gemacht, ob für eine Apothekenkette, einen Supermarkt oder ein Restaurant. Vieles ist grellbunt und wirkt, Verzeihung, ein wenig kindlich, so wie der putzige laufende Teddybär, der auf dem Navi-Bildschirm des Taxifahrers das übliche Pfeilsymbol für das Auto ersetzt.

Vielleicht ist das ein Ausgleich für die beeindruckende Disziplin und Höflichkeit der Japaner, die in Europa, speziell in Deutschland, leider längst nicht mehr selbstverständlich sind: Keine Zigarettenkippen, keine Getränkebecher, kein Hundekot und keine klebrigen Kaugummis verunstalten die Grünflächen und Gehwege. Es ist alles derart peinlich sauber, dass auch nach drei Tagen intensivsten Laufens durch die City das Schuheputzen noch unnötig ist.

U-Bahnen, S-Bahnen und Züge sind stets pünktlich, auch knapp bemessene Anschlüsse sind deshalb zu erreichen, Termine können minutengenau eingehalten werden und laufen auch so präzise ab.

Das Gedränge beim Einsteigen hält sich außerhalb des Berufsverkehrs erstaunlicherweise in Grenzen: Alle stehen in den auf dem Bahnsteig gemalten Zugangsbereichen ruhig in der Schlange an, obwohl die Fahrgäste dann in den Waggons so dicht an dicht stehen, dass ein Körperkontakt unvermeidlich ist. Die Japaner schaffen sich deshalb ihre Privatsphäre per Handy: Fast alle schauen starr auf ihr Mobiltelefon und vertreiben sich die Zeit mit Spielen oder Surfen im Netz.

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima muss Japan Energie sparen: In den Ministerien darf die Klimaanlage erst ab 26 Grad Außentemperatur angeschaltet werden, in größeren Gebäuden informieren große Tafeln über den gerade aktuellen Energieverbrauch, und auf dem Zugfahrplan ist auch die CO2-Bilanz ausgedruckt. Demnach habe ich für die 64,5 km vom Hotel zur Militärakademie das Klima mit 70 Gramm Kohlenstoffdioxid geschädigt, mit dem Auto wäre das angeblich fast das Zehnfache gewesen.

Im Regierungsviertel Tokios demonstriert eine kleine, wenig beachtete Gruppe für Japans Ausstieg aus der Atomenergie. Alle Gesprächspartner halten es dagegen für unmöglich, dass die große Industrienation Japan kurzfristig auf Atomkraftwerke verzichten kann. Japan sei 1,5mal so groß wie Deutschland und bestehe aus Inseln. Deutschland habe es da leichter, es könne Strom auch bei direkten Nachbarn wie Frankreich zukaufen, sagt Takahiro Shinyo, der die Bundesrepublik als früherer Botschafter in Berlin und Generalkonsul in Düsseldorf bestens kennt. "Ein abrupter Ausstieg aus der Kernkraft ist sehr schädlich für die Wirtschaft", betont Shinyo. Er habe den deutschen Atomausstieg aufgrund der Nuklearkatastrophe von Fukushima nicht nachvollzogen und halte ihn für unverantwortlich. Und bemerkenswert undiplomatisch für einen Japaner setzt Shinyo zu meiner Überraschung hinzu: "Das hat mit der berühmten deutschen Angst zu tun." Deutsche seien Träumer, Japaner Realisten. Die neuen Atomanlagen seien inzwischen fast 100 Prozent sicher. Außerdem arbeite Japan doch am Atomausstieg, aber "Schritt für Schritt".

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