Sexualität Oral, anal, normal - heftige Theologen-Debatte erregt Türkei

Istanbul · Was sich in türkischen Schlafzimmern tut, ist neuerdings zum Gegenstand einer theologischen Debatte zwischen Islam-Gelehrten geworden. Diskutiert wird, ob Oralsex nach den Regeln des Islam erlaubt ist. Gebannt folgt die Nation dem Schlagabtausch.

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Foto: Shutterstock/oneinchpunch

Begonnen hatte die Diskussion mit einem Fernsehauftritt des Theologen Ali Riza Demircan, der im Staatssender TRT zu "sündigen Praktiken zwischen Eheleuten" befragt wurde. Demircan ist Koranwissenschaftler und langjähriger Seelsorger an der Istanbuler Süleymaniye-Moschee, hat neun Kinder und elf Enkel und ist Autor des Standardwerks "Sexualität im Islam" - also ein Fachmann.

Aber als er mit sonorer Stimme und großem Ernst "Oralsex in fortgeschrittener Dimension" neben Analsex und Sado-Maso-Spielen als im Islam verbotene Praktiken aufzählte, trieb er damit die Moderatorin Pelin Cift zu einem Lachkrampf vor laufender Kamera. Die Szene wurde zu einem Renner im Internet.

Abgesehen davon weiß niemand so recht, was "Oralsex in fortgeschrittener Dimension" überhaupt sein soll. Demircan könnte es vielleicht erklären, aber er tat es nicht.

Doch seine Thesen blieben nicht unwidersprochen. Fernsehprediger Ahmet Mahmut Ünlü, bekannt unter dem Namen "Cübbeli Hoca" oder "Lehrmeister mit Gewand", erklärte, Oralsex sei sehr wohl erlaubt: Weder der Koran noch die Hadithe - Berichte über das Leben Mohammeds - oder die islamische Rechtsliteratur verurteilten diese Praxis ausdrücklich, und deshalb könne auch Demircan nicht von einem Verbot sprechen. Im Übrigen sei Oralsex in der Türkei weit verbreitet.

"Masturbierende Männer sehen im jenseits ihre schwangere Hand"

Erst vor wenigen Monaten war das Verhältnis zwischen Islam und Sex in der Türkei zum Thema geworden. Mücahid Cihad Han, wie "Cübbeli Hoca" ein bekannter Fernsehprediger, warnte die Gläubigen, masturbierende Männer würden eines Tages im Jenseits ihre "schwangere Hand" wiedersehen.

Dass Sexualität so häufig in Zusammenhang mit religiösen Auslegungsfragen öffentlich diskutiert wird, kann so gedeutet werden, dass konservative Türken darin eine Art Ventil sehen, über etwas zu reden, was ohne religiöse Verbrämung als unschicklich gelten würde. Zwar bietet das Internet auch für Türken den Zugang zu allen möglichen freizügigen Bildern, Videos und Debatten. Doch vielfach herrschen konservative Wertvorstellungen, die aus westlicher Sicht an Verklemmtheiten der 1950er Jahre erinnern.

So entschieden die Bildungsbehörden im vergangenen Jahr, bildliche Darstellungen der menschlichen Geschlechtsorgane hätten aus einem Schulbuch für die sechste Klasse zu verschwinden. Bei Istanbuler Werbetafeln für Bikinis und Sonnencreme forderten die Behörden laut Presseberichten vor wenigen Monaten die jeweiligen Firmen auf, keine nackten Beine zu zeigen.

Kritiker werfen der islamisch-konservativen Regierung in Ankara vor, sie wolle der Gesellschaft in der säkulären Republik ihre eigenen Wertvorstellung aufzwingen. Sexuelle Selbstbestimmung von Frauen wird in konservativen Kreisen häufig mit Misstrauen betrachtet; Schwule, Lesben und Transsexuelle haben es schwer, mit ihrem Wunsch nach Anerkennung Gehör zu finden. Die türkischstämmige deutsche Anwältin Seyran Ates forderte deshalb bereits vor Jahren eine sexuelle Revolution in der islamischen Welt.

Die Sex-Debatte der Theologen im Fernsehen ist aber auch ein Hinweis auf Veränderungen in der Türkei. Vor der Parlamentswahl vor vier Jahren bewarb sich die transsexuelle Musikerin Almina Can um einen Listenplatz bei der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Wenig später öffnete der erste Online-Sexshop der Türkei mit dem Versprechen, alle Produkte seien "halal", also konform mit den Regeln des Islam.

Zumindest der strenge Theologe Demircan dürfte da nicht zustimmen: Im aktuellen Angebot des Online-Ladens befindet sich unter anderem ein "Anfängerset für den Analverkehr".

(KNA)
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