Sterbehilfe-Klinik in den Niederlanden Leben müssen, sterben wollen

Den Haag · Die Lebensendeklinik in Den Haag bietet Patienten mit unheilbaren Leiden Sterbehilfe an. Die Nachfrage steigt. Doch wann ist ein kranker Mensch tatsächlich ausbehandelt?

Die Klinik in Den Haag.

Die Klinik in Den Haag.

Foto: Anna Green

Schmetterlinge zieren die Wände des Treppenaufgangs. Sie sind nicht echt, sondern aus Kupfer. Jeder steht für einen Menschen, der nicht mehr lebt, weil er oder sie nicht mehr leben wollte. Weil sie unheilbar krank waren. Weil das Leben zur Qual wurde. Die Schmetterlinge symbolisierten die Freiheit, selbst über den Tod zu entscheiden, sagt Annerieke Dekker, als sie ihren Gast in den ersten Stock der Lebensendeklinik in Den Haag führt.

Eine Klinik im klassischen Sinne ist das Jugendstil-Haus im Stadtviertel Scheveningen aber nicht. Es gibt keine Operationssäle, Patientenzimmer oder sterile Flure. Das braucht es auch nicht, schließlich ist die "Klinik" eine Beratungsstelle. Ruhige Konferenzzimmer statt Chefarztbüros. 15 Menschen arbeiten hier, darunter vier Ärzte. Dazu kommen noch 54 Außen-Teams, jeweils bestehend aus Ärzten und Krankenschwestern. Sie führen die Sterbehilfe bei den Patienten zu Hause durch. "Die eigenen Ärzte sollen es eigentlich machen, doch viele verweisen auf unsere Klinik", sagt Sprecherin Annerieke Dekker.

Die Zahl der Anfragen steigt

In den Niederlanden ist Sterbehilfe eigentlich strafbar. Seit April 2002 können Ärzte dem Todeswunsch eines Patienten aber straffrei entsprechen, sofern sie vorgeschriebene Sorgfaltskriterien einhalten. Da heißt es zum Beispiel, dass der Arzt zu der Überzeugung gelangt sein muss, dass der Patient seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert hat, dass keine Aussicht auf Besserung besteht und der Patient unerträglich leidet. Die Einschätzung muss von einem weiteren, unabhängigen Arzt bestätigt werden.

Viele Mediziner fühlen sich mit derlei Regeln aber nicht sicher oder halten die Sterbehilfe für nicht mit dem Hippokratischen Eid vereinbar, in dem es ja heißt: "Die Gesundheit und das Wohlbefinden meines Patienten werden oberstes Gebot meines Handelns sein." Kann der Tod heilen? Es ist eine von vielen Fragen, die an den Grenzen der Medizinethik liegen. "Sterben ist Teil des Lebens. Ärzte müssen hierbei auch beraten und gegebenenfalls helfen", sagt Dekker.

Eigentlich, erzählt sie, wollte man die 2012 gegründete Lebensendeklinik lediglich vorübergehend betreiben - um Ärzte für das Thema zu sensibilisieren -, doch die Zahl der Anfragen stieg. Wohl auch deswegen, weil manche Ärzte ihre lebensmüden Patienten lieber an die Klinik verwiesen, um etwaigen strafrechtlichen Verfahren zu entgehen.

Im zurückliegenden Jahr meldeten sich knapp 2500 Menschen bei der Lebensendeklinik - eine Steigerung von 38 Prozent. 747 erhielten im selben Jahr Sterbehilfe. Statt die Einrichtung wie einst geplant nach wenigen Jahren wieder zu schließen, sucht man seit einigen Wochen mehr Ärzte für die Außen-Teams. Ein eigenes Kompetenzzentrum archiviert die Erfahrungen der Mediziner und Krankenpfleger.

Der Sterbehilfe-Prozess ähnelt einer Narkose im Krankenhaus

Im Büro von Annerieke Dekker hängen Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand. Ein alter Mann ist darauf zu sehen. Er liegt im Bett. Zu Hause bei seiner Familie. Die Fotos entstanden kurz vor seinem Tod. Er hatte eingewilligt, dass sein Sterben für die Lebensendeklinik festgehalten werden darf. "Die Menschen wollen daheim sterben, bei ihren Liebsten, nicht in Krankenhäusern oder Heimen", sagt Dekker.

Der Sterbehilfe-Prozess ähnelt einer Narkose im Krankenhaus. Das erste Medikament, das ein Arzt des Außen-Teams dem Patienten verabreicht, ist ein Schlafmittel. Anschließend erhält der Patient ein Muskelrelaxans, das die Muskeln im Körper erschlaffen lässt. Die Atmung setzt aus. Das Herz bleibt stehen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich das Narkosemittel in Form eines Getränks selbst zu verabreichen. Die anschließende Injektion des Muskelrelaxans übernimmt der Arzt.

Jedem entsprochenen Todeswunsch geht eine Untersuchung des Patienten voraus. Ärzte der Lebensendeklinik besprechen mit den Hausärzten der Patienten die Krankengeschichte. Kommen dann zwei unabhängige Ärzte zu der Ansicht, dass es keine Hoffnung auf Heilung gibt, kann die Sterbehilfe durchgeführt werden. Je nach Komplexität des Falls kann diese Entscheidungsfindung Monate, in seltenen Fällen auch Jahre in Anspruch nehmen.

Laut Gesetz muss sich ein Patient in aussichtsloser Lage befinden

Insbesondere bei lebensmüden Patienten mit psychischen oder neurologischen Leiden dauert es, bis eine endgültige Diagnose steht. Gerade bei ihnen stellt sich die Frage: Wann ist ein kranker Mensch ausbehandelt? Einige prominente Psychiater äußerten im vergangenen November schwere Kritik an den Praktiken der Lebensendeklinik.

Den anklagenden Medizinern zufolge bewilligt die Klinik Sterbehilfe für Patienten, die noch nicht vollständig wegen ihrer psychischen Leiden behandelt wurden. Laut Sterbehilfe-Gesetz muss sich der Patient in einer aussichtslosen Lage befinden. Jedwede Heilungschancen müssen besprochen werden. Der Patient muss zudem geistig so fit sein, dass er die Tragweite seines Todeswunsches versteht.

Zündstoff für derlei Kritik lieferte auch eine TV-Reportage aus dem Jahr 2016. Journalisten begleiteten drei Patienten der Lebensendeklinik in den letzten Wochen vor deren Tod, darunter Hannie Goudriaan. Die 68-Jährige litt an semantischer Demenz, einer Krankheit, die sich durch Störungen des Sprachverständnisses kennzeichnet. Wörter können nicht mehr erkannt, Dinge nicht mehr benannt werden.

Kurz nach der Diagnose hatte Hannie Goudriaan mehrfach betont, Sterbehilfe erhalten zu wollen, wenn sie nicht mehr mit ihrer Familie kommunizieren könne. Am Tag ihrer Sterbehilfe sagte Hannie Goudriaan in dem Fernsehbeitrag Sätze ohne offensichtliche Bedeutung, etwa: "Ich muss huppakee." Wenig später sahen die Zuschauer, wie der Hausarzt Remco Verwer der kranken Dame die tödlichen Injektionen verabreichte.

Die Empörung anschließend war groß. Hannie Goudriaan sei offensichtlich nicht Herrin ihrer Sinne gewesen, womit eine Sterbehilfe nie hätte durchgeführt werden dürfen, hieß es in den sozialen Netzwerken: "Exekution statt Sterbehilfe". Der Medizinethiker Erwin Kompanje schrieb im "NRC Handelsblad", er sei "betäubt, verwundert und besorgt". "Der Beitrag wurde vielleicht an den falschen Stellen zu sehr gekürzt", sagt Annerieke Dekker. Man erfahre nicht die gesamte Lebens- und Leidensgeschichte von Hannie Goudriaan.

Staatliche Kommission bewertet nach dem Tod jeden Fall

Jeder Sterbehilfe-Fall in den Niederlanden geht nach dem Tod des Patienten vor eine staatliche Kommission. Sie bewertet, ob die Ärzte gemäß den Sorgfaltskriterien richtig gehandelt haben und damit straffrei sind. In manchen Fällen bemängelte die Kommission die Sorgfalt der Mediziner, einmal kam es zu einer strafrechtlichen Ermittlung. Eine Strafanzeige wurde bisher aber nicht gestellt.

Die Medizinethikerin Berna van Baarsen verließ vergangene Woche die Kommission. Sie könne es nicht mehr mit sich vereinbaren, dass Demenzpatienten Sterbehilfe erhalten könnten, sagte van Baarsen als Begründung. Bei einer weit fortgeschrittenen Demenz sei es unmöglich festzustellen, ob der Patient unerträglich leidet, denn er selbst könne es nicht mehr kommunizieren: "In einem Moment erkennt der Patient plötzlich seine Kinder wieder. Wann ist also der richtige Zeitpunkt für Sterbehilfe?"

Für die politischen Parteien ist die Sterbehilfe immer wieder ein bedeutender Streitpunkt. In der neuen Regierung sitzen seit Oktober 2017 zwei christlich-konservative Fraktionen (CDA und CU) zwei liberalen gegenüber (D66 und VVD). Die sozialliberale D66 schlug während der Koalitionsverhandlungen eine gravierende Reform des Sterbehilfe-Gesetzes vor. Nicht nur unheilbar kranke Menschen ab zwölf Jahren sollten Sterbehilfe erhalten können, sondern auch gesunde Menschen ab 75 Jahren, die sterben wollen. Nach heftigen Verhandlungen einigte man sich darauf, das Sterbehilfe-Gesetz zunächst so zu belassen, wie es ist.

(jaco)
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