Niederlande Missbrauchte Frau erhielt Sterbehilfe

Düsseldorf · In den Niederlanden sahen Ärzte für eine junge, psychisch erkrankte Frau keine Hoffnung mehr. Der Fall ist kein Novum, aber heikel.

Missbrauchte Frau erhielt Sterbehilfe
Foto: Radowski

Es ist, als habe sie nie existiert. Sie ist eine Namenlose. Eine junge Frau, zwischen 20 und 30 Jahren, habe sich im vergangenen Jahr in den Niederlanden per Sterbehilfe das Leben genommen. So steht es in der vor wenigen Tagen veröffentlichten anonymisierten Patientenakte der niederländischen Sterbehilfe-Kommission. Das Besondere an diesem Fall: Die junge Frau war nicht physisch krank. Doch ihr Leben war bis zu ihrem Freitod ein Abstieg in die Hölle.

Vor 15 Jahren wurde die junge Frau sexuell missbraucht. Von wem, das ist in den Dokumenten der Kommission nicht erläutert. Die "Patientin", wie es in dem Bericht lediglich heißt, habe in den darauffolgenden Jahren schwere Depressionen entwickelt. Immer wieder wurde sie von Ärzten behandelt. Sie erhielt Psychopharmaka, die ihr Trauma lindern sollten. Doch ihr Zustand verschlechterte sich. Halluzinationen wurden alltäglich. Zeitweise wurde sie durch einen Katheter ernährt, weil sie in die Magersucht abglitt. Sie bekam Darmspülungen, weil ihre Verdauung durch die psychischen Belastungen kollabierte. Eine Störung des Elektrolythaushalts war die Folge.

Noch zwei Jahre vor ihrem Tod unternahmen Ärzte und Psychologen, nach einer kurzen Phase der Besserung, einen letzten Versuch, die Beschwerden der jungen Frau in den Griff zu bekommen. Sie scheiterten. "Genesung war nicht mehr möglich", heißt es im Kommissionsbericht. Die Seele der jungen Frau verbrannte vor den Augen der Mediziner. Sie habe sich als Sterbende gefühlt, die aber nicht durch den Tod erlöst wurde. Also bat sie eines Tages um Sterbehilfe. Die Mediziner willigten ein. Drei Wochen vor dem Tod der jungen Frau besuchte sie ein Psychiater. Ein Allgemeinmediziner kam 19 Tage vor ihrem Ableben. Beide Ärzte sollten unabhängig voneinander ein letztes Mal den Zustand der Frau bewerten. Nach heutigem Stand der Wissenschaft sei die Patientin "ausbehandelt", ist jetzt im Bericht zu lesen. Keine Hoffnung. Irgendwann im vergangenen Jahr starb die junge Frau durch einen Medikamenten-Cocktail, der von einem Arzt verabreicht wurde.

Die Sterbehilfe-Kommission in den Niederlanden weiß um die Brisanz dieses Falls. Wohl aus keinem anderen Grund veröffentlichten die Verantwortlichen die anonymisierte Krankenakte. In dem Bericht finden sich Formulierungen wie "keine andere Alternative". Der Kommission ist klar, dass es ein Kasus war, den sie genau kommunizieren musste. Zwar ist es in den Niederlanden erlaubt, aufgrund psychischer Leiden den Freitod zu wählen.

Doch von den rund 5000 Menschen, die im vergangenen Jahr in dem 17-Millionen-Staat mit ärztlicher Hilfe ihr Leben beendeten, standen nur bei etwa einem Prozent psychische Erkrankungen im Vordergrund. Derartige Fälle werden durch die Kommission meist veröffentlicht, um Transparenz zu demonstrieren. Doch es bleiben Fragen: Wann ist ein Mensch wirklich sterbenskrank? Nur dann, wenn er körperlich keine Chance mehr auf Überleben hat oder auch, wenn er psychisch nicht mehr in der Lage ist zu leben? Und wäre eine solche psychisch kranke Person rechtlich gesehen überhaupt fähig, assistierten Suizid einzufordern?

Die Nachricht vom Tod der jungen Frau empörte vor allem Großbritannien. Dort diskutierte das Parlament erst im vergangenen Jahr, ob aktive Sterbehilfe erlaubt sein sollte. Robert Flello, Abgeordneter der Labour-Partei, bezeichnete das Vorgehen in diesem Fall als abscheulich. Es sende die Botschaft, dass Opfer von sexueller Gewalt noch einmal zusätzlich mit dem Tod bestraft würden. "Dieser tragische Fall zeigt, warum Euthanasie niemals legalisiert werden sollte. Was diese Frau brauchte, die an einem verzweifelten Punkt angekommen war, waren Hilfe und Unterstützung, um ihre Probleme zu lösen, nicht die Option auf Sterbehilfe", sagte die Tory-Abgeordnete Fiona Bruce.

In den Niederlanden trat das weltweit erste Sterbehilfe-Gesetz 2002 in Kraft. Danach wird ein Arzt nicht strafrechtlich verfolgt, wenn er den Sterbewunsch eines Patienten ab zwölf Jahren erfüllt, sofern dieser unerträglich leidet und aussichtslos krank ist. Die Diagnose muss von einem unabhängigen zweiten Mediziner bestätigt werden. Bis zum Alter von 16 ist das Einverständnis der Eltern erforderlich, danach müssen sie zumindest in die Entscheidung einbezogen werden. Belgien und Luxemburg folgten mit ähnlichen Gesetzen. Als einziges lateinamerikanisches Land gestattet Kolumbien nach einem Urteil des Verfassungsgerichts die ärztliche Sterbehilfe. Kanada legte im Frühjahr einen Gesetzentwurf vor. Deutschland lehnte im November 2015 eine entsprechende Regelung ab. Wer einer Person hilft, sich selbst zu töten, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.

Das Thema assistierter Freitod rückt in Westeuropa seit einigen Jahren aber immer mehr in den Fokus der Menschen. Studien zufolge wächst die Zustimmung zur ärztlichen Sterbehilfe. "Die Akzeptanz nimmt zu", sagte gestern auch der belgische Soziologie-Professor Joachim Cohen in Amsterdam auf der Weltkonferenz zur Sterbehilfe. Die Gründe seien abnehmende Religiosität, Vertrauen in das Gesundheitssystem und der Wunsch nach persönlicher Freiheit.

(jaco)
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