Das Flüchtlingsdrama auf Kos "Nichts wie weg von dieser Insel"

Kos · Tausende Flüchtlinge harren derzeit auf der griechischen Ägais-Insel Kos aus und warten dort auf die Papiere, mit denen sie in andere EU-Länder weiterreisen können. Unser Autor hat sich ein Bild vor Ort gemacht und mit Betroffenen gesprochen.

Kos: Flüchtlinge warten im Elend
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Flüchtlingselend auf Kos

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Foto: ap

Burhan wartet seit dem Morgengrauen. Er wollte einer der ersten sein. "Aber viele andere waren vor mir da", sagt Burhan enttäuscht. "Sie hatten die ganze Nacht hier verbracht." Inzwischen ist es halb elf, und die Menge der Wartenden vor dem Eingang des Stadions in Kos, der Hauptstadt der gleichnamigen griechischen Ägäisinsel, wird immer größer. Burhan kommt aus Aleppo in Syrien. Vor drei Monaten starb sein Bruder im Bürgerkrieg. "Das war der Wendepunkt für mich", sagt der junge Mann. Er floh in die Türkei, schlug sich nach Istanbul durch, von dort nach Bodrum an der Ägäisküste. Mit sechs weiteren syrischen Flüchtlingen kaufte er von einem Schleuser für 15.000 Dollar ein altes Schlauchboot mit einem kleinen Außenbordmotor. In einer windstillen Nacht fuhren sie von der türkischen Küste zur vier Kilometer entfernten griechischen Insel Kos.

Jetzt ist er hier — einer von Tausenden. Die Sonne brennt. Am Straßenrand wäscht ein Vater seinen kleinen Sohn mit einem Gartenschlauch. Dann hält der Junge dem Vater den Schlauch über den Kopf. "Ich habe mich seit zwei Wochen nicht richtig waschen können", sagt Burhan. Niemand weiß, wann sich das rostige Eisentor zum Stadion für die Wartenden öffnen wird. Aber Millionen Menschen wissen inzwischen, wie es dahinter aussieht. Die Aufnahmen gingen um die Welt. Es sind Bilder der Schande: Rund 2000 Flüchtlinge, eingepfercht auf einem staubigen Fußballplatz. Sie warten darauf, von der Fremdenpolizei registriert zu werden. Erst dann bekommen sie das begehrte Stück Papier, das es ihnen ermöglicht an Bord der Fähre zu gehen, die allabendlich von Kos ablegt und nach Piräus fährt.

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Manche warten seit drei Wochen auf diesen Zettel. Aber die Polizei in Kos hat nur zwei elektronische Geräte zur Abnahme von Fingerabdrücken. Entsprechend schleppend läuft die Registrierung. Die meisten Flüchtlinge sind am Ende ihrer Kräfte. Sie hungern, sind dehydriert, haben keine frische Kleidung. Viele sind krank. Diese Woche entluden sich die Spannungen. Um gegen die schleppende Registrierung zu protestieren und ihre Weiterreise durchzusetzen, blockierten am Dienstag mehr als 4000 Flüchtlinge, die seit Tagen vor der Polizeistation der Inselhauptstadt im Freien campieren, die Küstenpromenade. "We want to leave", wir wollen weg, stand auf den mit Filzstift beschrifteten Pappdeckeln, die sie in die Höhe hielten.

Nach den Protesten sperrte die Polizei etwa 2000 Menschen in das Stadion. Dort gibt es keinen Schatten, keine Sitzgelegenheiten, kein Trinkwasser, nichts zu essen. Immer wieder fielen Menschen in der Gluthitze in Ohnmacht. Die Polizei sah tatenlos zu, wie andere Flüchtlinge die Hitzeopfer aus dem Stadion trugen. Wer konnte, kletterte über den Zaun des Sportplatzes, um außerhalb auf die Suche nach Nahrungsmitteln und Trinkwasser zu gehen. Es kam zu Schlägereien zwischen Migranten verschiedener Nationalitäten. Auch Polizisten wurden angegriffen. Sie trieben die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Feuerlöschern auseinander.

Griechenland kämpft seit Jahren mit einem ständig zunehmenden Andrang von Migranten, die ohne gültige Papiere ins Land kommen. Aber in diesem Jahr ist der Strom dramatisch angeschwollen, vor allem wegen des Bürgerkriegs in Syrien. In den ersten sieben Monaten wurden in Griechenland nach Angaben der Polizeibehörden fast 157.000 Migranten ohne gültige Einreisepapiere aufgegriffen — fünfmal so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum. Allein im Juli kamen 49.550 — mehr als im gesamten Vorjahr. Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge stellen mehr als die Hälfte der Ankömmlinge, gefolgt von Menschen aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak.

Kos ist ein Brennpunkt — wegen seiner Lage unmittelbar vor der türkischen Küste. In der vergangenen Woche wurden hier 3995 Flüchtlinge registriert. "Jede Nacht kommen jetzt 600 bis 800 Menschen hier an", sagt Bürgermeister Giorgos Kyritsis. Er rechnet damit, dass es in den kommenden Tagen jeweils 800 bis 1000 Ankömmlinge sein werden. 7000 Migranten sind derzeit auf der Insel, die 30.000 Einwohner hat.

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Die Uferpromenade der Inselhauptstadt gleicht inzwischen einem einzigen Flüchtlingslager. Zwischen den Palmen haben einige kleine Zelte aufgeschlagen, andere schlafen unter freiem Himmel — Männer, Frauen, Kinder, Greise und Babys. Einige Flüchtlinge tragen noch die Schwimmwesten, mit denen sie über die Ägäis kamen. Andere fanden ein Dach über dem Kopf — aber was für eins: Etwa 400 Flüchtlinge hausen im ehemaligen Hotel "Captain Elias", einem abbruchreifen Gebäude, ohne Strom und ohne Wasser. Sie schlafen dicht an dicht auf zerschlissenen Matten und verdreckten Matratzen.

Auf beiden Seiten liegen die Nerven inzwischen blank. Für Aufsehen sorgte ein Foto, das einen Polizisten auf Kos zeigt, wie er einen Migranten ohrfeigt. In der anderen Hand hält der Polizist ein langes Messer, mit dem er den jungen Mann zu bedrohen scheint. Der Beamte wurde vom Dienst suspendiert. Bürgermeister Kyritsis warnte in einem offenen Brief an die Regierung in Athen: "Die öffentliche Sicherheit und Ordnung stehen vor dem Zusammenbruch, die Gefahr, dass es zu einem Blutvergießen kommt, ist real."

"Bereits vorher hatten wir eine völlig unzureichende Versorgung der Flüchtlinge", sagt Brice de le Vigne von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). "Was wir jetzt erleben, sind Misshandlungen — die Polizei geht immer brutaler gegen diese verletzlichen Menschen vor." Die Hilfsorganisation sieht Europa in der Pflicht. Florian Westphal, Geschäftsführer von MSF in Deutschland: "Die EU muss endlich sichere und legale Fluchtwege schaffen." Die Situation auf den griechischen Inseln sei nur deshalb so drastisch, weil Europa den Menschen auf der Flucht keine andere Wahl lasse, als in Booten die gefährliche Reise über das Mittelmeer anzutreten, kritisiert Westphal.

Aufgeschreckt durch die wenig schmeichelhaften internationalen Medienberichte, ist die Athener Regierung jetzt offenbar aufgewacht. Sie schickte Ende dieser Woche zusätzliche Beamte der Ausländerpolizei nach Kos, um die Registrierungen zu beschleunigen. Am Samstag wird außerdem auf der Insel ein Fährschiff erwartet, das die Regierung gechartert hat. Es soll als Unterkunft für Flüchtlinge dienen — für einige Tage, bis sie registriert sind und ihre Papiere bekommen. Denn für die Flüchtlinge ist Griechenland nur eine Durchgangsstation. Deshalb beantragen sie hier kein Asyl. Sie wollen nach Westeuropa. Von den Inseln führt ihr Weg über Athen nach Nordgriechenland. Dort überqueren sie die grüne Grenze nach Mazedonien. Wer Geld hat, kauft sich dort eine Eisenbahnfahrkarte, andere folgen zu Fuß den Bahngleisen. Das erste Ziel des Trecks ist das EU-Land Ungarn. Von dort geht es weiter nach Westeuropa.

"Wäre es nicht besser, wenn man diese Menschen sofort legal dorthin reisen lassen würde, wo sie hin möchten, statt sie den Schleusern zu überlassen und in Lebensgefahr zu bringen?", fragt Konstantina Svynou, die Vorsitzende der Hotelierskammer von Kos. "Wir sind jedenfalls mit diesem Ansturm völlig überfordert", sagt sie. Im Frühjahr haben Svynou und andere Hoteliers in Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen wie "Solidarität Kos" die Flüchtlinge täglich mit Essen versorgt. "Damals ging es um ein paar hundert Menschen. Aber jetzt sind es Tausende, und jeden Nacht kommen Hunderte dazu", sagt Svynou. "Das geht über unsere Kräfte." Wie die meisten Einwohner auf Kos, wirft sie der Regierung in Athen vor, dass sie viel zu lange untätig blieb.

Negative Auswirkungen auf den Tourismus habe die Flüchtlingskrise bisher nicht, auch wenn die Bilder, die jetzt um die Welt gehen, "natürlich keine Werbung für Kos sind", sagt die Hotelwirtin, aber: "Wir sind ausgebucht." Und Svynou selbst scheint keine Berührungsängste zu haben. Durch die geöffnete Tür ihres Büros sieht sie in die Lobby des Hotels Maritina. "Moment mal", sagt sie während des Gesprächs, "da ist wieder einer, der sein Handy aufladen will." Die Chefin steht auf und zeigt dem jungen Mann, wo die Steckdose ist. Es ist Ayub, 27 Jahre alt. Der junge Diplomingenieur ist aus dem Iran über die Türkei nach Kos geflohen, gemeinsam mit sieben Freunden. Sie alle sind christlichen Glaubens. "Für Christen gibt es im Iran keine Zukunft", sagt Ayub.

800 Dollar hat jeder den türkischen Schleusern für die Überfahrt bezahlt, erzählt er. Zu der Gruppe gehört auch eine junge Mutter mit ihrem Sohn. Das Kind ist krank und liegt apathisch auf einer Parkbank. Wie alle will Ayub nicht in Griechenland bleiben, sondern weiter. Sein Ziel ist Deutschland, dort lebe ein Onkel von ihm. Wo genau, das will er nicht sagen. Ayub hat viele Fragen: Ob der Staat in Deutschland Flüchtlingen Arbeit beschaffe? Ob es dort richtige Wohnungen für Flüchtlinge gebe? Und wo das Leben am besten sei? In Berlin, in Köln oder vielleicht in München? Sein Ziel scheint er noch nicht so genau zu kennen. Aber er hat es eilig. Auf seinem Smartphone hat er im Internet gelesen, dass die Ungarn jetzt einen Grenzzaum bauen, um Flüchtlinge zurückzuhalten. "Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagt Ayub. "Nichts wie weg von dieser Insel…"

(gh)
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