"Humans of New York" Die guten Menschen vom Internet

New York City · Zynismus und Häme hagelt es häufig im Internet. Anders beim Fotoprojekt "Humans of New York". Diese Facebook-Seite ist eine fast magische Enklave der Empathie im Netz. Jetzt haben ihre Fans mehr als eine Million Dollar für Schüler in einem Problembezirk gesammelt.

New York City und das Internet haben vieles gemeinsam: Sie sind übervoll und chaotisch, laut und bunt, riesige Projektionsflächen für Träume mit vielen schmutzigen Ecken — und dominiert von Kapitalismus, Aggression und sozialer Kälte. Entsprechend unwahrscheinlich ist es, dass dort entstandene zarte Mini-Porträts von ganz normalen New Yorkern bei Facebook in gar nicht so wenigen Menschen das Beste hervorbringen.

New York City hat 8,5 Millionen Einwohner. Die New York Times, die vielleicht beste Zeitung der Welt und ganz sicher eine der bekanntesten Medienmarken, hat bei Facebook 9 Millionen Fans.

Das Fotoblog "Humans of New York" hat knapp 12 Millionen Facebook-Fans sowie mehr als 2 Millionen bei Instagram. Die paar hunderttausend bei Twitter sowie die Leser der daraus entstandenen großformatigen Bücher noch gar nicht mitgezählt.

Erst kühler Banker, heute warmherziger Fotograf

Hinter dem Erfolgsprojekt steht ein einziger Mann. Brandon Stanton, ein 29-Jähriger, den seine rückwärts aufgesetzte Baseballkappe und sein Enthusiasmus jungenhaft wirken lassen. Stanton war ein schlechter Schüler, kiffte zu viel, schaffte aber schließlich einen Studienabschluss in Geschichte. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bekam er damit einen Job als Wertpapierhändler in Chicago. Als er im Juli 2010 nach drei Jahren gefeuert wurde, hatte er fürs Erste genug verdient, um es sich zu leisten zu können, seinen Träumen zu folgen.

Also begann er, seine Tage mit seinem frisch entdeckten Hobby Fotografie zu füllen. Zunächst knipste er alles, was ihm vor die Linse kam. Nach ein paar Wochen zog er nach New York City, konzentrierte er sich auf Menschen und gründete das Blog "Humans of New York". Ein Jahr lang wurstelte er dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch. Das änderte sich, als er auf den Rat eines Freundes hin eine Facebook-Seite einrichtete.

Doch auch dort hatte man nicht auf ihn gewartet — im Gegenteil. Schließlich ist das Soziale Netzwerk vollgestopft mit Fotos von Menschen. Stanton hoffte darauf, dass viele bemerken würden, was bei seinen anders ist: "Ich erwische sie unvorbereitet und fange mit etwas Glück ehrliche Momente ein."

Kleine, ehrliche Momente im Leben normaler Leute. Das perfekte Kontrastprogramm zu den Events mit Popstars und Profisportlern, die die Schlagzeilen auch und gerade online dominieren. Warum? "Wenn wir über eine Straße laufen, fragen wir uns doch, wer die Menschen um uns herum sind, was ihre Geschichten sind, ihre Siege."

Stanton hat mühsam gelernt, diese Fragen laut auszusprechen. Dabei weiß er: "99,99 Prozent der Leben sind nicht besonders aufregend."

Deshalb waren es zunächst naturgemäß die Paradiesvögel, die ihn anzogen — die mit den schrillsten Outfits, Frisuren, Tätowierungen, Fortbewegungsmitteln. Anfangs stets aus der Hüfte geknipst, ohne Einwilligung, weil er fürchtete, die ohnehin nicht zu bekommen.

Dann realisierte Stanton, dass auch ein noch so gutes Porträtbild samt Name des zugehörigen Stadtviertels fast zwangsläufig blutleer bleibt. Also setzte er immer weniger auf ausgefallene Motive und immr mehr darauf, seine Models in Gespräche zu verwickeln. Und was für welche.

Leben, reduziert auf ein Foto und eine Handvoll Worte

Stanton fragt nach dem Existenziellsten. Nach Liebe und Hass, Mut und Angst, Glück und Verzweiflung. Er fragt Greise und Teenager, mittelalte Männer und Frauen, kleine Kinder. Schwarze und Weiße, Latinos und Asiaten. superreiche und Obdachlose. Und aus irgendeinem Grund vertrauen sie ihm und erzählen ihre teils erschütternden, aber vor allem immer wieder erhebenden Geschichten.

Nicht als Textwüsten, sondern als Facebook-gerechte Häppchen stehen sie unter den Fotos. Ein Menschenleben reduziert auf zwei, drei Sätze, Frage schon inklusive.

Man hört ihn förmlich brummen, den Bauarbeiter, dessen Frau ihn langsam zu einem Romantiker erzieht, "mit Picknicks und Smalltalk und dem ganzen Kram".

Man spürt das eigene Herz weich und weit werden beim Anblick des Mädchens, das "Delfinretterin" werden will, wenn es groß ist — und dem des kleinen Jungen, der auf dieselbe Frage antwortet: "Ein Zug!"

Man realisiert, wie sie die eigene Vorstellungskraft überfordert, die energetische junge Frau, die von ihrer 95-Stunden-Woche erzählt, verteilt auf drei Jobs, und ihren drei Kindern auf dem College.

Man hat das Gefühl, sie ein Stückweit zu kennen. Den netten jungen Mann, der am liebsten Pornostar werden würde, aber seiner Mutter die Fremdscham ersparen möchte. Und den pummeligen Grundschüler, der auf Stantons Frage "Was war das Heldenhafteste, das du je getan hast?" sagt "Das Geschirr abgespült, ohne dass mich jemand darum gebeten hatte."

Und denkt sich: Guter Mann!

Die Facebook-Fans helfen mit warmen Worten und Taten

Besser noch als die Porträts sind die Leserkommentare. Mehr als 200.000 Likes bekam das Foto eines Obdachlosen, dem der Klapptisch gestohlen war, die notwendige Voraussetzung für seinen Broterwerb als Buchhändler. Diese Likes helfen nicht, die vielen warmen Worte vielleicht schon mehr — und unter den knapp 4000 Kommentaren zu diesem Bild findet sich auch folgender: "Ich habe eine Rückwärtssuche der Faxnummer im Hintergrund gemacht. Dieser Mann sitzt an der Ecke 400 East und 9. Straße, in der Nähe des Line Market. Lasst uns ihm einen neuen Klapptisch besorgen!"

Hätte sich Stanton nicht nach wenigen Minuten eingemischt, der Mann wäre wohl von seinen Fans mit Klapptischen zugebaut worden.

Aktuell spenden die Fans von "HoNY" per Crowdfunding der Mott Hall Bridges Academy. Die Schule steht in Brownsville, Brooklyn, in der Nachbarschaft mit der höchsten Kriminalitätsrate von ganz New York City. Schon nach einer Stunde war das Ziel von 100.000 Dollar überschritten, inzwischen sind mehr als eine Million zusammengekommen — sowohl Likes als auch Dollar.

Stantons Schwerpunktsetzung provoziert auch Kritik: Er zeige Karikaturen und Kitsch, simplifiziere und verharmlose Probleme, heißt es. Tut er in der Tat. Macht aber nichts, weil er kein Soziologe ist oder auch nur Journalist. Er ist Teil der Unterhaltungsindustrie und sein Schaffen jedenfalls wertvoller als Up- und Download des millionsten Katzenvideos. Zweifellos ist ein Teil der via "Humans of New York" kommunizierten Empathie demonstrativ ("Schaut mal, was ich Anrührendes geliked habe!"). Ein anderer aber wird zu größerer Achtsamkeit im echten Leben anregen.

Auch dürfte, müsste, sollte sich jeder einzelne Leser seines eigenen relativen Glücks bewusster werden angesichts all der gebrochenen Herzen und Knochen, Familientragödien, Gewalt- und Drogenerlebnisse, selbst wenn sie meist im Hintergrund einer irgendwie geglückten Rettung stehen.

Unterwegs mit den Vereinten Nationen

Im Herbst 2014 hat Stanton den nächsten Schritt gemacht und sich mit Vertretern der Vereinten Nationen in Krisenregionen begeben, um für das Erreichen der acht Milleniums-Entwicklungsziele zu werben: Bekämpfung von Armut und Hunger, Schulbildung für alle und Verringerung der Kindersterblichkeit. Das Ausmaß von Leid, Armut, Hunger im Irak und Haiti, in der Ukraine und dem Südsudan hätten ihn ernüchtert, sagte er danach. Zugleich habe die Reise seinen Glauben an die Ähnlichkeit aller Menschen gestärkt: "Alle wollen dasselbe: Sicherheit, Bildung, Familie."

In Kasangulu im Kongo wollte er eine ältere Dame fotografieren. Diese stimmte zu — unter der Bedingung, dass er ihr ein paar Erdnüsse abkaufe. Als die Aufnahme im Kasten war, fragte er sie nach dem traurigsten Moment ihres Lebens. Die Frau lachte schallend und sagte: "Um das zu erfahren, musst du nochmal welche kaufen."

Was er dann tat. Win-win-Situation.

Dieser Text ist zuerst in der exklusiven Sonntagsausgabe der Rheinische Post App für iPads und Android-Tablets erschienen. Mehr Informationen dazu gibt es unter www.rp-app.de

(tojo)
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