Sommerinterview mit Heinrich Bedford-Strohm "Wir können nicht jeden zu uns holen"

Cagliari · Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Flüchtlingskrise, Donald Trump und seinen Sommerurlaub.

 Der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, am Strand von Cagliari auf Sardinien.

Der Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, am Strand von Cagliari auf Sardinien.

Foto: dpa, cul kde

Zum Frühstück trinkt Heinrich Bedford-Strohm am liebsten einen doppelten Espresso. Davon gibt es heute reichlich: Auf Sardinien besucht Bedford-Strohm deutsche Marinesoldaten an Bord des Tenders "Werra". Das Boot liegt im Hafen der Inselhauptstadt Cagliari. Als Teil der Operation "Sophia" rettet die Besatzung Flüchtlinge, die ihr Leben auf unsicheren Schlauchbooten im Mittelmeer riskieren — für den Traum von Europa. 17.491 Menschen haben deutsche Marinesoldaten seit Beginn der Mission im Mai 2015 gerettet. Ein Anlass, Danke zu sagen, findet der 56-Jährige. Wir haben den Ratsvorsitzenden begleitet und für unsere Interview-Reihe "Kurs halten" mit ihm über die Weltlage und seinen Glauben gesprochen.

Wo sind Sie heute hergekommen?

Bedford-Strohm Aus München. Aber ich war die letzten Tage in Mittelamerika unterwegs, wo ich die Partnerkirchen besucht habe. Zwischendurch war ich noch im Büro, und nach meinem Besuch der Deutschen Marine wird dann mein Urlaub beginnen.

 Auf dem Marineschiff "Werra" spricht Bedford-Strohm mit einigen Offizieren.

Auf dem Marineschiff "Werra" spricht Bedford-Strohm mit einigen Offizieren.

Foto: dpa, kde

Sommerzeit ist ja eigentlich Urlaubszeit. Wann haben Sie denn mal Zeit für Urlaub?

Bedford-Strohm Nach diesem Besuch. Ich habe diesen Besuch von meinem Urlaub abgeknapst, weil wir sonst keinen anderen Termin gefunden hätten und mir das sehr wichtig war.

Sie fordern zur Lösung der Flüchtlingskrise legale Zugangswege nach Europa. Tatsächlich erleben wir, dass sich einzelne Länder abschotten. Wie lässt sich der Widerspruch auflösen?

Bedford-Strohm Jedenfalls nicht durch extreme Lösungswege. Auf der einen Seite ist doch klar, dass Europa nicht alle weltweit 65 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann. Natürlich kann auch Deutschland nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen. Es muss daher bei der Aufnahme von Flüchtlingen geregelte und faire Verfahren geben, und es muss eine ebenso faire internationale Lastenverteilung geben. Es ist aber ebenso falsch zu sagen: Wir machen jetzt dicht. Nehmen Sie das Beispiel des Familiennachzugs: Fehlender Familiennachzug belastet natürlich die Integration hier. Deswegen ist es wichtig, dass wir für nachziehende Familien legale Zuwanderungswege schaffen. Und wenn man die Bilder aus Aleppo sieht, kann man gar nicht anders, als Mitgefühl zu empfinden und zu hoffen, dass es Wege gibt, die Menschen irgendwie zu retten.

Ein Pfiff ertönt, als der Ratsvorsitzende im schwarzen Bischofsgewand mit Schwung aufs Deck steigt — eine militärische Ehre. An Bord wird Bedford-Strohm von Fregattenkapitän Torsten Eidam begrüßt, Kontingentführer der Operation "Sophia". Die Soldaten stehen stramm. Die meisten von ihnen hätten eigentlich einen freien Tag, den sie bei diesem Sonnenschein auch am Strand hätten verbringen könnten. Der Ratsvorsitzende hat jedem von ihnen ein Lebkuchenherz mitgebracht. "Danke" steht in Zuckergussschrift darauf.

Sie haben gesagt, die deutschen Werte würden auf dem Mittelmeer verteidigt. Nun gibt es viele Protestanten, die jeglichen Einsatz von Militär ablehnen. Wie passt das zusammen?

Bedford-Strohm Ich wollte darauf hinweisen, dass eine Verteidigung der für uns grundlegenden Werte auch mit nicht-militärischen Mitteln möglich ist. In diesem Fall wird ja nicht geschossen. Im Gegenteil — die Soldaten retten Menschenleben. Sie verteidigen das Grundlegendste, für das wir stehen: die Würde des Menschen. Der Einsatz von Militär kann gerechtfertigt sein, um das Recht aufrechtzuerhalten. Es kann nicht sein, dass wir wegschauen, wenn Menschen schutzlos Mörderbanden ausgeliefert sind. Da kann es keinen Dogmatismus geben.

Das heißt, Sie befürworten einen militärischen Einsatz gegen den IS, auch unter deutscher Beteiligung?

Bedford-Strohm Nicht-militärische Mittel haben immer Vorrang, und die sind noch längst nicht ausgeschöpft. Man muss etwa Waffenexporte unterbinden und die Finanzströme austrocknen, die sie finanzieren. Aber ich habe Jesiden im Irak besucht, die im Sindschar-Gebirge festsaßen. Wenn die USA und die kurdischen Peschmerga da nicht eingegriffen hätten, wären diese Menschen tot. Ich kann nie und nimmer befürworten, dass diese Menschen schutzlos dem Morden ausgeliefert sind. Ich schließe militärische Schutzmittel nicht aus. Sie müssen aber auf guter rechtlicher Grundlage sein und da gibt es im Augenblick Defizite, weil die UN nicht handlungsfähig sind.

An Bord unterhält sich Bedford-Strohm lange mit der Besatzung. Er hört Geschichten wie die von Elektronikoffizier Bodo W. (54). Der 54-Jährige war in den vergangenen 18 Monaten sechs Monate auf See, ist schon zum zweiten Mal mit der "Werra" im Mittelmeer unterwegs, um Flüchtlinge aus völlig überfüllten Schlauchbooten zu retten. Im Juli hat der Tender 650 Flüchtlinge aus dem Wasser gezogen. Die leeren Schlauchboote werden meistens verbrannt. Sie sind fast alle nicht seetüchtig, haben oft nicht einmal einen Motor. Er erzählt, wie die Flüchtlinge in ihren eigenen Exkrementen hocken, und von dem Gestank, wenn die Flüchtlinge erst einmal sicher an Bord sind. Das kann bis zu zwölf Stunden dauern. Bei all dem Leid, das er erlebe, sei für ihn die Geburt eines Babys an Bord ein kleiner Lichtblick gewesen: Eine afrikanische Frau hat auf dem Tender einen Sohn zur Welt gebracht. Es war erst die zweite Geburt an Bord in der Geschichte der Deutschen Marine. Das erste Kind kam vor gut einem Jahr auf der Fregatte "Schleswig-Holstein" auf die Welt. Nach diesem somalischen Mädchen ist die ganze Operation benannt: Sophia.

Sie haben hier auch eine Flüchtlingsunterkunft besucht. Was waren Ihre Eindrücke?

Bedford-Strohm Mich hat in der Unterkunft der Caritas beeindruckt, mit wie viel Liebe die Menschen dort behandelt werden. Die menschliche Begegnung ist wichtig. Das schließt nämlich auch ein, dass man Illusionen nimmt. Ich habe mit einem Flüchtling gesprochen, der für ein Studium nach Deutschland kommen wollte. Ich habe ihm gesagt, dass der Weg über das Asylrecht der falsche Weg ist und dass er sich an der Uni bewerben muss, damit er ein Visum bekommen kann. Es geht nicht darum, die Welt zu umarmen und jeden nach Deutschland zu holen. Wenn man Menschen mit Empathie begegnet, kann man auch unangenehme Wahrheiten aussprechen.

Die Flucht über das Mittelmeer hat wieder deutlich zugenommen, seit die Balkanroute geschlossen ist. Was sollen wir in Europa tun?

Bedford-Strohm Das Asylrecht gilt. Deswegen ist es wichtig, ein funktionierendes einheitliches Asylrecht in Europa zu schaffen, das auf dem Boden des humanitären Völkerrechts steht. Wir können da nicht locker lassen, dass Europa rechtliche Verpflichtungen, die über viele Jahrzehnte gewachsen sind, einhält und Menschen Schutz und Zuflucht bietet. Wir müssen über die Grundlagen Europas sprechen, aber nicht mit moralischer Besserwisserei. Wenn das Wort "christlich" eine Rolle spielt, dann müssen wir darüber ins Gespräch kommen, was das heißt. Ein christliches Europa mit Militärgewalt gegen Schutzsuchende zu verteidigen, wäre ein Widerspruch in sich.

Am Nachmittag hält Bedford-Strohm einen Gottesdienst. Er predigt über das Gleichnis des barmherzigen Samariters. Die "Werra" ist für ihn ein "Samariterboot". Eidam sagt, er brauche keinen Befehl dafür, Menschen aus Seenot zu retten. Das sei Pflicht jedes Seemanns. Nach dem Gottesdienst gibt es einen "Kirchencocktail" an Bord. Bedford-Strohm legt sein schwarzes Gewand ab. Später sitzt er im weißen Hemd auf der Brücke und unterhält sich mit Eidam bei einem Glas Bowle.

Immer mehr Flüchtlinge in Deutschland lassen sich taufen. Worin besteht die integrative Kraft der christlichen Kirchengemeinden?

Bedford-Strohm Schon jetzt kommt aus den Gemeinden und den diakonischen Werken viel Engagement. Es gibt in den christlichen Kirchen über 200.000 Ehrenamtliche. Hier darf nicht das erste Motiv Mission sein. Es muss immer zuerst um den Menschen gehen — ohne Hintergedanken. Aber natürlich taufen wir Menschen, wenn sie aus Freiheit darum bitten. Bedingung für die Taufe ist eine gute Vorbereitung. In Bayreuth etwa gibt es 70 Menschen, die sich taufen lassen wollen. Sie absolvieren einen Kurs mit zehn Modulen, in dem sie die Grundlagen des christlichen Glaubens lernen. Diejenigen, die diese Taufkurse organisieren, kommen an den Rand ihrer Kapazitäten. Aber es gibt keinen schöneren Anlass als diesen, um solche Kapazitäten auszuweiten.

In Deutschland wird ein Burka-Verbot diskutiert oder die Aufweichung der ärztlichen Schweigepflicht. Wo hört Vorsicht auf und fängt Hysterie an?

Bedford-Strohm Die Grenze kann man nicht markieren. Vorsicht ist richtig. Es ist auch richtig, dass man das, was rechtstaatlich verantwortbar ist, für die Sicherheit tut. Aber natürlich müssen wir uns auch vor Hysterie hüten. An der Reaktion auf den Amoklauf in München merkt man, dass vieles mit unseren Emotionen zusammenhängt. Die Menschen assoziieren die zehn Toten von München gefühlsmäßig mit der terroristischen Bedrohung durch den Islamismus. Obwohl der Amoklauf nichts mit Religion und nichts mit Islamismus zu tun hatte.

Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass jemand schießend durchs Olympiaeinkaufszentrum in München läuft?

Bedford-Strohm Ich war in meinem Büro in München und konnte es nicht verlassen. Ich habe wegen der Berichterstattung auch zunächst an einen islamistischen Terroranschlag gedacht. Man hatte ja Angst, dass Terrorkommandos durch die Stadt ziehen, was sich ja hinterher als falsch herausstellte. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass das Gefühl der Bedrohung zunächst mal ein Gefühl ist. Wie wir mit diesem Gefühl umgehen, ist eine große Frage, vor der wir alle stehen. Der Glaube spielt da für mich eine zentrale Rolle. Wer auf den Glauben vertraut, lebt aus der Kraft und aus der Zuversicht und nicht zuerst aus der Angst.

Nun gibt es unter den evangelischen Christen trotzdem viele, die Angst haben und nicht weiterwissen und dann auf politische Parteien vertrauen, die sehr radikale Lösungen vorschlagen. Was bewegt Menschen dazu, zum Beispiel der AfD anzuhängen?

Bedford-Strohm Wichtige Motive sind Angst und Sorge um die Zukunft. Zwei Fragen sind im Umgang damit wichtig. Erstens: sind die Antworten der AfD geeignet, solche Ängste zu bewältigen? Und zweitens: was trägt wirklich, um diese Ängste zu bewältigen? Für mich als Christ ist das mein Gottvertrauen. Gott lieben und den Nächsten lieben, ist nach allem, was die Bibel sagt, die Grundachse dessen, was uns aufgetragen ist. Die Förderung von Hetze und kaltherzigen Populismus können nie und nimmer die Antwort sein für uns Christen.

Ihre Frau ist Amerikanerin, ihr Sohn wird in diesen Tagen eine Amerikanerin heiraten. Sind für Sie das Phänomen Donald Trump und die AfD vergleichbar?

Bedford-Strohm In beiden Fällen wird stark mit Ängsten gearbeitet. Gefühle und Sorgen werden instrumentalisiert. Die einfachen Antworten der globalen Vereinfacher diesseits und jenseits des Atlantiks müssen aber hinterfragt werden. Was passiert eigentlich, wenn diese von Trump flapsig dahergeredeten Dinge, Wirklichkeit würden? Das wäre in einigen Punkten humanitär katastrophal. Ich verfolge manches mit Fassungslosigkeit, vertraue aber darauf, dass die Vernunft sich durchsetzen wird.

Aber die Briten wählen den Brexit, die AfD will in Mecklenburg-Vorpommern stärkste Kraft werden.

Bedford-Strohm Ich glaube, dass es umso mehr darum gehen muss, Zukunftsvertrauen und Vernunft in ein gutes Verhältnis zu bringen. Und die Intuitionen der Menschlichkeit, die die meisten spüren, wenn sie mit Leid konfrontiert sind, stark zu machen. Auch viele Menschen, die auf Parolen der AfD reagieren, spüren diese Intuition, wenn sie mit der Not anderer direkt konfrontiert sind. Das ist meine Erfahrung. Deswegen sollte man AfD-Wähler auch nie abkanzeln, sondern diese Intuitionen der Menschlichkeit wachrufen.

Wie viel Politiker steckt im Pfarrer Bedford-Strohm?

Bedford-Strohm Ich habe nie etwas davon gehalten, wenn parteipolitische Orientierungen sich in den Vordergrund schieben. Ich kann mir andererseits gelebten Glauben nicht vorstellen, ohne sich für Politik zu interessieren. Die Überwindung von Not, die jedem Christen aufgetragen ist, kann nicht ohne politische Einmischung passieren. Wer fromm ist, muss auch politisch sein.

Pünktlich zum Reformationsjubiläum kommt eine neue Lutherbibel heraus. Warum ist es nötig, die Bibel in eine neue Sprache zu fassen?

Bedford-Strohm Es ist keine neue Sprache. Es bleibt die Lutherübersetzung. Das Faszinierende ist, dass man in vielen Fällen zu der Originalübersetzung aus dem Jahr 1545 zurückgekehrt ist. Und zwar auf dem Stand der neuesten Forschung. Es zeigt, wie genial die Lutherübersetzung war. Damals hat er schon so klug übersetzt, dass es dem heutigen Forschungsstand gerecht wird.

Was ist Ihre Lieblingsstelle in der Bibel?

Bedford-Strohm Das ist ein Spruch, der als letzter Satz in meiner Habilitationsschrift stand und mir auch unabhängig davon bei meiner Ordination zugesprochen wurde: "Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit." Und das ist jetzt auch mein Motto für meine Zeit als Bischof. Übrigens hat — das habe ich erst später gemerkt - auch Kardinal Marx diesen Vers als Bischofsspruch. Eine schöne ökumenische Verbindung zwischen uns.

Was ist denn in Sachen Ökumene zu erwarten im kommenden Jahr?

Bedford-Strohm Ich freue mich, dass gerade im Hinblick auf Reformationsjubiläum bzw. —gedenken sehr viel ökumenisches Vertrauen gewachsen ist. Nicht nur zwischen Kardinal Marx und mir und auf der ganzen Spitzenebene. Auch die Menschen in den Gemeinden wollen 2017 zusammenfeiern. Der Grund ist ganz einfach: Worum ging es Martin Luther vor 500 Jahren? Es ging ihm darum, neu auf Christus hinzuweisen. Und wenn wir heute das tun wollen, was Martin Luther wollte, können wir das nur noch gemeinsam in ökumenischer Perspektive tun.

Gibt es eigentlich noch Hoffnung auf eine EKD-Denkschrift zur Sexualethik?

Bedford-Strohm Das Thema ist nach wie vor wichtig. Aber ob die EKD sich in Form einer Denkschrift oder in anderer Weise dazu äußert, wird man sehen müssen.

Wohin geht es von hier für Sie weiter?

Bedford-Strohm Jetzt geht es erst in den Urlaub — für ein paar Tage mit meiner Frau in ein kleines Dorf an der mecklenburgischen Seenplatte. Und danach reise ich in die USA. Da gibt es dann ein großes deutsch-amerikanisches Hochzeitsfest und Familientreffen. Anschließend freue ich mich auf meinen Besuch bei der deutschen evangelischen Gemeinde in New York. Die feiert in diesem Jahr ihren 175. Geburtstag.

(heif)
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