Menschenrechte Gerichtshof in Straßburg erstickt in Klagewelle

Straßburg (rpo). An ihn wenden sich die Verzweifelten: Mütter von verschollenenen tschetschenischen Söhnen, ums Sorgerecht kämpfende Väter, gefolterte Kurden. Zahllose Opfer von Menschenrechtsverletzungen wenden sich derzeit an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg. Doch der droht unter der Klageflut zu ersticken: Im vergangenen Jahr gingen mehr als 44.000 Beschwerden ein.

Der Berg der anhängigen Fälle ist damit auf über 82.100 angewachsen. Und bei dem derzeitigen Tempo könnte er sich innerhalb der kommenden fünf Jahre verdreifachen, warnen Experten des Europarats in einem dieser Tage veröffentlichten Bericht.

Angesichts dieser Entwicklung seien Reformen nötig, die "möglicherweise radikal" sein müssten, heißt es in der Studie. Würden diese nicht ergriffen, sei "die Zukunft des Gerichtshofs düster". Der Europarat, zu dessen Einrichtungen das Menschenrechtsgericht gehört, steht dabei vor einer schwierigen Aufgabe. Zum einen soll das individuelle Klagerecht erhalten bleiben, das den Gerichtshof zu der weltweit einzigen Instanz macht, an die sich Bürger mit Beschwerden über Grundrechtsverletzungen durch einen Staat wenden können.

Zum anderen muss verhindert werden, dass die Menschenrechtshüter von einer ständig wachsenden Lawine an Beschwerden überschwemmt werden, die zum größten Teil aussichtslos sind. Rund 85 Prozent der Eingaben werden nämlich für unzulässig erklärt - etwa, weil der nationale Rechtsweg nicht erschöpft wurde. Doch auch diese Beschwerden werden zunächst geprüft, was im Durchschnitt drei Jahre in Anspruch nimmt. Bis ein Fall ganz durch ein Urteil abgeschlossen wird, vergehen nicht selten mehr als fünf Jahre. Damit verstößt der Gerichtshof nach Ansicht mancher Juristen selbst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention - über deren Einhaltung durch die 46 Europaratsländer er wachen muss: Sie verankert nämlich das Grundrecht auf einen Prozess in einer "angemessenen Zeit".

Eine Reihe von Reformen zur Entlastung des Gerichts mit seinen derzeit rund 520 Mitarbeitern wurde bereits im Mai 2004 in einem Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention beschlossen. So sollen praktisch identische Beschwerden gegen ein und denselben Staat, etwa wegen zu langer Untersuchungshaft, in einem vereinfachten Verfahren behandelt werden. Das gleiche soll für Fälle gelten, die von vornherein aussichtslos erscheinen.

Schließlich ist ein zusätzlicher Filtermechanismus vorgesehen: Demnach kann der Gerichtshof Beschwerden zurückweisen, wenn den Betroffenen kein "schwerer Schaden" entstanden ist und es nicht um schwerwiegende Grundrechtsverletzungen geht. Doch dieses Protokoll tritt erst in Kraft, wenn es von allen 46 Europaratsländern ratifiziert wurde - was noch mehrere Jahre dauern könnte.

Die Autoren des Berichts bezweifeln zudem, dass diese Maßnahmen ausreichen. Damit würden zwar "die Symptome behandelt, aber nicht die Ursachen" des Problems. Sie schlagen daher zusätzlich die Einrichtung von "Außenstellen" des Gerichtshofs in Ländern vor, aus denen besonders viele Klagen kommen. Das ist vor allem Russland, das mit 17 Prozent der Beschwerden an der Spitze steht. An zweiter Stelle folgt die Türkei (13 Prozent), gefolgt von Rumänien (12 Prozent) und Polen (11 Prozent). Die Juristen in den Außenstellen sollen demnach helfen, unzulässige Fälle von vornherein herauszufiltern.

Über weitere Reformen denkt auch ein im September einberufener Rat aus sieben hochkarätigen Experten nach, zu denen die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach gehört. Dieses Gremium soll seine Vorschläge vor Jahresmitte dem Ministerkomitee des Europarats unterbreiten.

(afp)
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