Vor 30 Jahren Eine Zeitreise in die Hölle von Tschernobyl

Pripjat · Vor 30 Jahren explodierte der Reaktorblock 4 des sowjetischen Kernkraftwerks. Unser Autor war 1996 mit Angela Merkel vor Ort.

 Weißrussische Kinder erholen sich 1995 von den Folgen einer Schilddrüsenerkrankung.

Weißrussische Kinder erholen sich 1995 von den Folgen einer Schilddrüsenerkrankung.

Foto: dpa

Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima - das sind die Orte einer gescheiterten Technologie. Es sind Niederlagen der Allmachtsfantasie des Menschen, eine Technik zu entwickeln, die keine Fehler duldet. Die Mutter der Atomkatastrophen aber bleibt der ukrainische Ort Tschernobyl. Dort geriet vor knapp 30 Jahren am 26. April 1986 um 1.23 Uhr der Reaktorblock 4 bei einem Experiment des sowjetischen Verteidigungsministeriums außer Kontrolle und löste den bis heute folgenschwersten Unfall in einer Atomanlage aus.

Die Ursache lag in einem klassischen menschlichen Konflikt. Die Ingenieure in Tschernobyl wiesen ihre Vorgesetzten in Moskau darauf hin, dass bei dem rüstungstechnischen Versuch einige Messungen deutlich überhöhte Werte lieferten. Die Mannschaft empfahl einen Abbruch des Experiments. Doch davon wollte die Zentrale in Moskau nichts wissen. "Weitermachen", hieß der Befehl. Es kam, was kommen musste. Statt den Stopp-Knopf zu drücken, beschleunigten die Techniker in einer Mixtur aus Inkompetenz und Missverständnissen den Prozess. Binnen Sekunden setzte die Kernschmelze ein, das Kühlmittel verdampfte, die Stahlbetonhülle hielt den Explosionen nicht stand. Die bis heute schlimmste Atomkatastrophe nahm ihren Lauf.

Unbesiegbarkeitsmythos am Ende

Am Ende zerstörte Tschernobyl den Unbesiegbarkeitsmythos des kommunistischen Regimes der Sowjetunion. Die Katastrophe stand für das Versagen eines Systems, das weder ökonomischen Wohlstand noch Sicherheit garantieren konnte. 1991 zerfiel das Riesenreich, und noch jetzt befinden sich die meisten Nachfolgestaaten, allen voran Russland, auf Talfahrt.

Tschernobyl war einer der Gründe für das Ende des Eisernen Vorhangs und den Fall der Mauer. Der Unfall brachte auf verquere Weise indirekt auch Millionen von Menschen die Freiheit, darunter einer jungen Ostdeutschen namens Angela Merkel. Zehn Jahre nach der Katastrophe, im Februar 1996, besuchte die CDU-Politikerin und damalige Umweltministerin den Ort, der wie heute in der neugegründeten Ukraine lag.

Der Autor dieses Beitrags begleitete die heutige Kanzlerin auf dieser denkwürdigen Reise. Merkel besuchte seinerzeit die weißrussische Hauptstadt Minsk, das Bezirkskrankenhaus in Gomel, das Kinder mit dem lebensgefährlichen, aber grundsätzlich heilbaren Schilddrüsenkrebs behandelte, und schließlich den Unglücksort selbst. Weißrussland wählte Merkel als Reiseetappe, weil nicht nur die Ukraine, sondern vor allem das Nachbarland betroffen war. Knapp ein Viertel des weißrussischen Staatsgebiets war durch den radioaktiven Ausstoß des havarierten Reaktors verseucht. 1,8 Millionen Menschen leben noch immer in den weniger belasteten Regionen dieser Gegend, darunter fast eine halbe Million Kinder.

Denkwürdige Reise

Die Reise der heutigen Kanzlerin war auch deswegen denkwürdig, weil sie beinahe geplatzt wäre. Bei einer Pressekonferenz in Slawutitsch, jener nach der Katastrophe neugegründeten Stadt, fühlten sich die Verantwortlichen der ukrainischen Seite durch die Fragen der deutschen Journalisten so in die Enge gedrängt, dass sie mit Abbruch drohten. Schließlich platzte auf höhere Anweisung eine fulminante Folklore-Gruppe in die Pressekonferenz, obwohl die jungen Leute erst für das Abendprogramm vorgesehen waren. Einen Tag später stellte Angela Merkel einen der schärfsten Frager zur Rede - damals war sie noch nicht so gelassen und ruhig wie heute. Denn ein vorzeitiges Ende der Reise hätte zu schweren Verwerfungen in den deutsch-ukrainischen Beziehungen geführt. Für eine junge Ministerin hätte dies schnell das Ende der Karriere bedeuten können.

Es war insgesamt eine Rutschpartie auf schneebedeckten Pisten. Der Horrortrip in die verlassene Atom-Stadt Pripjat, wo noch immer die aufgeschlagenen Betten und unaufgeräumten Zimmer mit den Stofftieren der Kinder der früheren Bewohner zu sehen waren, tat ein Übriges. Die Bewohner der sowjetischen Atomstadt wurden erst 36 Stunden nach der Havarie benachrichtigt, mussten dann aber sofort ihre Wohnungen verlassen. Insgesamt eine halbe Million Menschen wurden umgesiedelt. Die sowjetische Führung errichtete einen Sperrbezirk von 30 Kilometern rund um den ausgebrannten Reaktor.

Damals schaffte es Merkel, ihre Gesprächspartner bei Laune zu halten. Ein versöhnliches Mittagessen mit ihrem damaligen ukrainischen Kollegen Juri Kostenko und dem Sportminister Waleri Borsow, dem ehemaligen Sprint-Olympiasieger und Merkel-Idol, stellte das Vertrauen wieder her. Auch hier erwies sich die spätere Kanzlerin nach einigen Irrungen und Wirrungen als klug-pragmatisch.

Reservat für Tiere

Vier Jahre später werden die verbliebenen Reaktorblöcke 1 und 3, die 1996 zum Schrecken der Experten noch liefen, endgültig abgeschaltet. Die belastete Region rund um den Unglücksreaktor ist zur stillen Todeszone geworden. Mörder und andere Schwerkriminelle haben dort Unterschlupf gefunden. Die Behörden greifen kaum ein. Und natürlich gibt es die Tiere, die sich an keinen menschengemachten Sperrbezirk halten. Forscher berichten von Elchen, Braunbären, Luchsen und Bibern, Wölfen und Eulen aller Art, die sich in der Zone eingenistet haben. Sie haben in der menschenleeren Wildnis so etwas wie ein Reservat gefunden, trotz der Verseuchung mit Plutonium und Cäsium, die allerdings nicht flächendeckend ist, sondern sich in bestimmten Arealen konzentriert.

Direkt vor Ort errichten Ingenieure und Arbeiter eine neue gigantische Stahlbetonhülle auf Schienen, die im kommenden Jahr über den längst einsturzgefährdeten Betonsarg der ersten Stunde geschoben werden und ihn für mindestens 100 Jahre sichern soll. Ob die Mission mit dem spröden Namen "Chernobyl Shelter Implementation Plan" 2017 tatsächlich erfüllt werden kann, ist offen. Noch immer lagern rund 200.000 Tonnen radioaktiven Staubs und geschmolzener Brennelemente in der Reaktorruine.

Noch etwas kommt hinzu: Der unerklärte Krieg im Osten der Ukraine könnte die Sicherungsarbeiten behindern. Und Terroristen gelten als ernste Bedrohung, weil sie sich dort radioaktives Material besorgen könnten. Vor Kurzem machte der frisch vereidigte neue ukrainische Umweltminister Ostap Seremak seinen "Antrittsbesuch" in Tschernobyl. Sein Fazit: "Die Ukraine kann das allein nicht schaffen. Wir brauchen Hilfe."

(unter Mitarbeit von Ulrich Krökel)

(kes)
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