Schwere Ausschreitungen in Beirut Im Libanon tobt ein Müll-Bürgerkrieg

Beirut · In Beiruts Straßen stapelt sich der Dreck, Tausende Libanesen protestieren gegen die Müllkrise. Demonstranten fordern den Rücktritt der auf ganzer Linie versagenden Regierung.

Beirut - der Müll-Krieg im Libanon eskaliert
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Gewalt in Beirut - der Müll-Krieg im Libanon eskaliert

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Die libanesische Regierung schafft es seit Monaten nicht, einen neuen Präsidenten auszuwählen oder Wahlen abzuhalten. Infrastruktur und Grundversorgung im Land liegen seit Jahren brach, Wasserknappheit und Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Doch erst eine Müllkrise hat die frustrierten Bürger auf die Barrikaden gebracht: Zehntausende von ihnen gehen gegen die unfähige Regierung auf die Straße.

So kriselt nun plötzlich der kleine Staat, der sowohl den Arabischen Frühling als auch den Krieg im benachbarten Syrien bisher weitgehend unbeschadet überstanden hat. Er droht im Chaos zu versinken, falls die Gewalt in der Hauptstadt sich ausweitet.

Den Politikern, darunter vielen Warlords aus dem 15-jährigen Bürgerkrieg, dürfte ein hitziger Spätsommer bevorstehen. "Die libanesische Gesellschaft schließt zum Rest der arabischen Welt auf, was Proteste gegen die Zentralregierung angeht", sagt der Politikwissenschaftler Rami Churi vom Issam-Fares-Institut an der Amerikanischen Universität Beirut.

Der vorderasiatische Staat hat seinen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 in vielerlei Hinsicht nie überwunden. Einige alternde Kriegsfürsten gaben ihre Macht an ihre Söhne und Verwandte weiter. Eine Regierung nach der anderen versäumte es, die Infrastruktur des Landes zu verbessern, so dass die Libanesen auch 25 Jahre nach Kriegsende noch regelmäßig unter Versorgungsengpässen leiden.

Schwelender Unmut explodiert

Der jahrzehntelang schwelende Unmut über die schlechte Regierungsführung und korrupte Politiker brach sich schließlich nach dem 17. August Bahn. An diesem Tag schloss die Regierung die heillos überfüllte größte Abfalldeponie, ohne Beirut eine Alternative anzubieten.

Auf den Straßen sammeln sich seitdem wahre Müllberge an. Aus Protest gegen die unzumutbaren Zustände formierte sich die Bürgerbewegung "Ihr stinkt". Die Demonstranten weiteten ihre Forderungen rasch aus. Sie verlangen nun den Rücktritt der gesamten Regierung der nationalen Einheit, die christliche und muslimische Politiker vereint.

Das Land steht seit mehr als einem Jahr ohne Präsident da - und das trotz fast 30 Versuchen des Parlaments, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Das Abgeordnetenhaus verlängerte zweimal seine Amtszeit ohne eine Wahl. Dennoch tagen die Parlamentarier nicht, da einige von ihnen vorher auf der Wahl eines neuen Präsidenten bestehen.

"Ihr-stinkt"-Bewegung wird gewalttätig

Die zunächst friedlichen Proteste der "Ihr-stinkt"-Bewegung schlugen am vergangenen Wochenende in Gewalt um. Eine kleine Gruppe junger Männer versuchte mehrfach, einen Stacheldrahtzaun vor dem Regierungsgebäude in Beirut niederzureißen. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein. Dutzende Menschen wurden bei Zusammenstößen verletzt.

Protestteilnehmer machten Rowdys für die Gewalt verantwortlich und erklärten, politische Agenten hätten die Demonstrationen infiltriert. "Diejenigen, die das getan haben, repräsentieren nicht das libanesische Volk", sagt Salah Nureddine, der an einer kleinen Protestaktion am Montag teilnahm.

Nachgeben wollen die Vertreter von "Ihr stinkt" auf keinen Fall. "Der Bewegung ist es gelungen, die Libanesen neu zu erwecken, und wir werden nicht zulassen, dass sie (die Politiker) uns wieder in den Schlaf versetzen", sagt ein Vertreter der Gruppe, Marwan Maaruf. Er rief für den kommenden Samstag zu einer Großkundgebung auf mit dem Ziel, "eine ganze korrupte politische Klasse zu stürzen". Doch ein solcher Massenprotest könnte nach Ansicht von Beobachtern das Land in ein noch größeres Machtvakuum und mehr Instabilität stürzen. Das fragile Finanzsystem, das durch zahlreiche syrische Kriegsflüchtlinge ohnehin stark belastet ist, droht ins Wanken zu geraten.

Eine für Montag geplante Protestaktion hatten die Organisatoren zwar abgesagt. Dennoch versammelten sich mehrere Hundert Demonstranten nach Sonnenuntergang friedlich im Zentrum von Beirut. Einige vergleichen die Proteste bereits mit denen des Arabischen Frühlings ab dem Jahr 2011. Die Tageszeitung "As-Safir" titelte: "Aufstand des 22. August: Die Demonstranten umzingeln den "politischen Müll"".

Auch Politologe Churi rechnet damit, dass die seit Jahren größten Demonstrationen im Libanon nicht folgenlos bleiben werden. "Wenn sich der Protest ausweitet, könnte er der Anfang einer ernsthaften Herausforderung für das sektiererische System werden", sagt der Wissenschaftler. "Entweder muss die Regierung abgelöst werden, oder sie muss effizienter und gerechter werden."

Die Regierung von Ministerpräsident Tammam Salam bemüht sich indes, auf die Krise zu reagieren. Umweltminister Mohammed Machnuk gab die Namen von Unternehmen bekannt, die neue Lizenzen für Mülltransport und Deponien erhalten sollen. Er sprach von einem "transparenten" Vergabeprozess und einem "wichtigen Erfolg". Für Dienstag setzte die Regierung eine Sondersitzung des Kabinetts an, um über das Müllproblem zu beraten. Sechs Minister der radikalislamischen Hisbollah und ihrer Verbündeten verließen das Treffen aber vorzeitig.
Über Fortschritte wurde zunächst nichts bekannt.

(ap)
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