Nizza-Augenzeuge Richard Gutjahr "Als hätte jemand den Ton abgestellt"

Nizza · RP-Kolumnist Richard Gutjahr sah das Attentat in Nizza vom Balkon seines Hotelzimmers aus. Hier beschreibt er, was er in der Nacht erlebte.

Meine Familie und ich hatten uns in Nizza ein Hotelzimmer genommen, um den Nationalfeiertag zu erleben. Als das Feuerwerk gegen 22 Uhr begann, stand ich auf dem Balkon meines Hotelzimmers mit Blick auf die Promenade. Gegen 22.45 Uhr endete das Feuerwerk. Die Lichter gingen wieder an, die Party verlagerte sich vom Ufer weg, die Leute feierten und tanzten. Es war ungefähr so wie beim Public Viewing vor dem Brandenburger Tor.

Dann sah ich plötzlich, wie sich ein weißer Lkw ohne Aufschrift langsam näherte. Das wunderte mich, weil die Straße für den Autoverkehr schon den ganzen Tag gesperrt war. Weil ich sowieso gerade Fotos gemacht hatte, schaltete ich mein Handy instinktiv auf den Video-Modus um und filmte mit. Ich sah, wie ein Motorradfahrer an den Lkw heranfuhr und versuchte, die Fahrertür zu öffnen. Doch er scheiterte und geriet unter die Räder. Als an der nächsten Kreuzung Polizisten begannen, auf den Lkw zu schießen, raste der Fahrer los. Ich will nicht ausschließen, dass es gar nicht der Plan des Fahrers war, all diese Leute zu überfahren, sondern er einfach den Schüssen entkommen wollte. Er hätte zumindest vorher schon genug Gelegenheit dazu gehabt, Menschen zu überfahren.

Was danach geschah, diese ganzen Toten, das spielte sich alles in 40 bis 50 Sekunden ab, auf höchstens 200 Metern. Die Leute hatten den Wagen erst gar nicht gemerkt. Sie gerieten erst in Panik, als sie die Schüsse hörten. Ich sah, wie der Lkw in eine Menschenmenge raste.

Kurze Zeit später ging ich auf die Straße, einfach weil ich Journalist bin und das meine Aufgabe ist. Ich hatte mit Verletzten gerechnet, aber nicht mit Toten, aber dann sah ich diese Menschen unter den Tüchern liegen. Wie viele Tote es waren, erfuhr ich erst viel später. Ich begriff auch erst später, dass es einer dieser Anschläge war, von denen es in letzter Zeit viel zu viele gab. Für ein paar Minuten schien es, als hätte jemand den Ton abgestellt, die Leute waren gespenstisch still. Dann setzte das volle Programm ein mit Krankenwagen, Polizei, Militär und so weiter. Am Nachmittag hatten sich die Soldaten noch bei einer traditionellen Parade feiern lassen und hatten Nizza dann wieder verlassen. Nun kehrten sie zurück, und die Jubelstimmung war vorüber.

Wenn ich jetzt nach draußen schaue, dann sehe ich das Meer und den blauen Himmel. Es wirkt wie immer — nur dass kein Mensch auf der Straße zu sehen ist.

Protokoll: Sebastian Dalkowski

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