Nizza nach dem Anschlag Zwischen Wut und Gleichgültigkeit

Nizza · Die Sicherheitslage in Frankreich schien sich zu normalisieren - dann schlug der Attentäter von Nizza zu. Unsere Autorin Annika Joeres lebt seit Jahren in der Stadt - sie registriert, wie der Ausnahmezustand in Frankreich zur Normalität wird.

 Am Morgen nach der Attacke in Nizza: In der Nähe des Tatorts stehen zwei verlassene Kinderwagen am Strand

Am Morgen nach der Attacke in Nizza: In der Nähe des Tatorts stehen zwei verlassene Kinderwagen am Strand

Foto: ap, LB

Endlich sollte wieder alles normal werden. Endlich sollten wir wieder unbeschwert Feste in den Städten feiern können und die hässlichen Absperrgitter vor allen Rathäusern und Kindergärten abgebaut werden. Endlich sollten wir wieder das Gefühl haben, in einem normalen Frankreich zu leben, wir wollten die französische Revolution feiern wie jedes Jahr, mit Feuerwerk und Musik und viel Rosé.

Aber nun ist ein Attentäter über die Strandpromenade in Nizza gerast, er hat mehr als 80 Menschen in den Tod gerissen und die Hoffnung auf ein angenehm alltägliches Leben in Frankreich begraben.

Nun herrscht wieder die Angst wie nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November, wieder überschlagen sich die Anrufe von Freunden und Verwandten, ob man sich nicht möglicherweise am falschen Ort in Frankreich aufgehalten habe. Wieder gucken uns die Kinder fragend an und wieder versucht Präsident Francois Hollande, mit einem Ausnahmezustand, mit Absperrgittern und Elternverboten in Schulen und Kindergärten eine Sicherheit vorzugaukeln, die es nicht geben kann - nicht, wenn ein LKW ausreicht, um einen Terroranschlag zu verüben.

Das Ziel des Attentäters ist für das südfranzösische Nizza das, was das Brandenburger Tor für Berlin oder der Eiffelturm für Paris ist: Die Promenade zieht sich über sieben Kilometer am Meer entlang und ist das Wahrzeichen Nizzas. Nicht ein Südfranzose, der nicht schon auf der Promenade geschlendert wäre. Nicht ein Tourist in Nizza, der nicht vom roten Asphalt auf das Meer geschaut hätte. Mit dem Attentat ist ein Ort beschmutzt worden, der allen gehörte — den Reichen der Côte-d'Azur, die in den Restaurants am Strand ihre Austern verspeisen, den Jugendlichen, die am Strand Gitarre spielen und Rotwein aus Tetrapaks trinken, und den Touristen, die auf den Kieselsteinen sonnenbaden. Es ist ein Ort, an dem sich Menschen und Nationalitäten mischen — viel bunter, als es die exklusiven Strände in Cannes oder St Tropez sind.

Ausgerechnet hier fährt der Täter seine Todestour. Ausgerechnet hier und ausgerechnet am 14. Juli. An kaum einem anderen Tag ist die Promenade in Nizza so überfüllt wie am Nationalfeiertag. Das Feuerwerk erhellt minutenlang die Straße am Meer, zehntausende Touristen an der Côte d'Azur schauen zu. Der Höhepunkt des Jahres wird nun für immer von diesem Attentat überschattet sein.

Der Ausnahmezustand wird nun erneut um drei Monate verlängert, und mithin all die Vorschriften, die seit dem Attentat vom November letzten Jahres in Paris eingeführt wurden. "Es bringt ja doch alles nichts", sagen Freunde nun, denn wer hält Menschen auf, die offenbar nur noch großen Hass auf die französische Gesellschaft empfinden? Niemand kann sie aufhalten, sagen viele Franzosen, und die Bäckersfrau weigert sich, "un mot" - überhaupt nur "ein Wort" - über das Attentat zu verlieren, weil sie "ihr Frankreich" zurückhaben will und übers Totschweigen vielleicht wieder daran glauben kann.

Dabei schien es ein friedlicher Sommer zu werden. Nach der gelungenen Europameisterschaft, in der sich nur ein paar besoffene Fans prügelten und ansonsten alles gut lief, hatte Präsident Hollande am Donnerstag angekündigt, den Ausnahmezustand zu beenden. Eine Freundin rief nach dieser Nachricht extra an, so groß war die Freude darüber, den "état d'urgence" loszuwerden.

Denn der Ausnahmezustand hat unser Leben in Frankreich nicht drastisch, aber doch schleichend verändert. Weil überall die roten Warndreiecke zu sehen waren und wir unsere Kinder nicht mehr am Klassenraum im Kindergarten abgeben konnten, sondern am Eingangstor "au revoir" sagen mussten. Weil beim Karneval in Nizza, nach Rio und Venedig dem größten der Welt, schwerbewaffnete Männer die Clowns bewachten, weil Feste abgesagt und Rucksäcke in Einkaufszentren gefilzt wurden. Und weil der Elternbeirat der Grundschule plötzlich nicht mehr für Bio-Essen in der Kantine stritt, sondern über höhere Zäune um den Schulhof debattierte.

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Terror in Nizza: Der Morgen nach der Lkw-Attacke

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Foto: ap, LB

Unser Alltag ist gespickt mit sinnlosen Versuchen, den Terrorismus einzudämmen, aber das Gefühl bleibt, dass keine Spezialeinheit der Welt uns schützen kann, solange wir alle mit unseren Tankfüllungen aus dem Nahen Osten die Konflikte anheizen und solange Frankreich seine Zuwanderer-Familien in trostlose Vorstädte verbannt.

Aber die Fragen nach den tieferen Ursachen möchten nur wenige stellen. Schon bei den vergangenen Wahlen stimmte in einigen Stadtteilen mehr als jeder Zweite für den rechtsextremen Front National, in aktuellen Umfragen kommt Marine Le Pen auf noch mehr Anhänger. Die Wut wächst, ebenso wie die Gleichgültigkeit, ja, die Akzeptanz der Ausnahme.

Denn etwas hat sich doch verändert seit den Attentaten in Paris vor acht Monaten: Damals waren Nachbarn und Freunde noch davon überrumpelt, das Frankreich ein Ziel von Attentaten sein könnte. Diesmal tritt etwas ein, mit dem fast schon alle gerechnet haben, so häufig, wie über die Gefahr in den Medien berichtet wird. "Das überrascht mich nicht", heißt es nun, auch wenn es diesmal direkt in der Nachbarschaft geschieht und nicht in der 900 Kilometer entfernten Hauptstadt. Wir haben uns an den Ausnahmezustand gewöhnt — das normale, sorglose Leben ist für viele Franzosen wieder in weite Ferne gerückt.

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Foto: afp

Annika Joeres, 38, stammt aus Recklinghausen und arbeitet als freie Journalistin. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie seit vier Jahren in einem Bergdorf bei Nizza, zuvor zwei Jahre in Nizza selbst.

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