Xanten Maria "Mieze" ist Xantens älteste Einwohnerin

Xanten · Maria Disseler ist vor wenigen Wochen 106 Jahre alt geworden. Die Mutter eines Sohnes lebt seit 1993 in Xanten. Gerne würde sie noch mal die Zeit zurückdrehen - und mit ihren Eltern und Geschwistern an einem Tisch sitzen.

Xanten: Maria "Mieze" ist Xantens älteste Einwohnerin
Foto: Christoph Reichwein

Maria nennt sie niemand. "Die ganze Verwandtschaft sagt Mieze, schon von klein auf", erzählt Magdalena Disseler und streicht ihrer Schwiegermutter liebevoll über die Hand. Sie hat erst vor Kurzem ihren 106. Geburtstag gefeiert. Mieze war früher ein gebräuchliches Synonym für den Namen Maria. In ihrem Fall reicht "früher" bis ins Jahr 1911 zurück, als Maria Disseler in Bottrop das Licht der Welt erblickt hat.

Zehn Brüder und Schwestern hatte sie, drei sind früh gestorben. "Von den vier Mädchen war ich die Älteste. Die Jüngste war Gerti, unser Hermann war der Älteste von meinen Brüdern." Der Vater war Schuster, die Mutter hat auf dem Benediktushof Maria Veen im südlichen Münsterland gestopft und genäht, einer sozialen Einrichtung der stationären Wohnungshilfe. "Da ist sie mit dem Zug hingefahren", erinnert sich Maria Disseler noch genau.

Auch daran, dass sie und ihre Geschwister abends schon ganz gespannt an der Haustür warteten, dass die Mutter wieder nach Hause kommt und was sie wohl mitgebracht hat. Denn als Lohn gab es immer 'was zu essen für die Familie. Und oft genug holte die Mutter ein schönes großes Stück Speck aus der Tasche.

"Zu essen hatten wir immer, wir haben nie gehungert", sagt Mieze Disseler und antwortet ganz klar auf die Frage, ob sie und die Geschwister denn den ganzen Tag allein gewesen seien: "Nein, warum? Unser Vater war doch da." Zu Weihnachten, da wurde daheim am Baum immer gesungen. Ein Instrument konnte aber keines der Geschwister lernen. Dafür fehlte das Geld.

Mieze Disseler war drei Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Daran hat sie keine Erinnerung, wohl aber daran, dass sie als Schulkind gerne poussiert hat. "Kennen Sie das Wort noch?", fragt sie und erzählt von dem Jungen aus der Jungenschule, auf den sie ein Auge geworfen hatte. Sonntags, da trugen die Mädchen zu Hause die schöne weiße Schürze aus Organza, wochentags andere Schürzen, damit die Kleider nicht so schnell dreckig wurden.

Irgendwann war die Jugend vorbei, Maria Disseler heiratete, zog mit ihrem Mann nach Essen, arbeitete dort als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen. "Und dann kam es knüppeldick", sagt sie: Der Zweite Weltkrieg brach aus, sie wurde evakuiert, ist bei Verwandten in Stadtlohn untergekommen. Der Mann wurde eingezogen, kam in Kriegsgefangenschaft in Polen und Russland, wurde vermisst. "Aber er ist zurückgekommen." 1946 kam Sohn Bernhard zur Welt. "Heiligabend sind wir immer in die Kirche gegangen, in Essen. Da brauchten wir nur über die Straße zu gehen", erzählt sie. Und auch davon, dass es Weihnachten immer besonders schön war und viel gesungen wurde.

Was sie bis heute nicht vergessen hat: Die Reise gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nach Polen. "Da haben Männer an Tischen gesessen und einen Gänsebraten vertilgt - und die Frauen haben nichts abgekriegt." Wo genau das gewesen ist, weiß sie nicht mehr.

1993 zog Maria Disseler nach Xanten, wo auch der Sohn mit seiner Familie lebt. Sie bezog im betreuten Wohnen am St.-Elisabeth-Haus ein kleines Appartement, in dem sie bis ins hohe Alter von 105 Jahren selbstständig gewohnt hat. Irgendwann klappte das mit dem Sehen nicht mehr so gut, auch körperlich wurde Mieze schwächer. Seit Sommer lebt sie im Pflegeheim St. Elisabeth, teilt sich mit einer weiteren Seniorin das Zimmer, in dem auch noch Platz für ihr geliebtes Sofa ist. Das hat sie sich gekauft, als sie 80 wurde. Dabei hatte sie noch gezögert, ob sie die Couch überhaupt zulegen sollte. "Die verschleiß' ich im Leben nicht mehr", soll Maria Disseler gesagt haben.

Verschlissen ist die Couch bis heute nicht. Denn die alte Dame, die sich immer freut, wenn ihre Urenkelinnen Matilda (6) und Lilia (14) mal zu Besuch kommen, achtet nicht nur Werte, sondern auch auf sich und ihr Äußeres: Wenn die Haare nicht anständig liegen, lässt sie sich im Rollstuhl nirgendwo hinfahren. Auch nicht nach unten in den Gemeinschaftsraum, wo donnerstags nachmittags gesungen wird.

Was sie sich wünscht? Die Zeit, noch einmal zurückdrehen zu können, um gemeinsam mit den Eltern und Geschwistern, die alle verstorben sind, an einem Tisch zu sitzen. Und einen leichten Tod. "Aber jetzt noch nicht", sagt die 106-Jährige.

VON HEIDRUN JASPER

(jas)
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