Xanten Der Luther-Versteher

Xanten · "Wes das Herz voll ist, des geht dem Munde über": Jörg Zimmer schreibt seine Doktorarbeit über Martin Luther, der am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel ans Portal der Kirche in Wittenberg genagelt hat.

 Jörg Zimmer (51) aus Moers liest am heutigen Feiertag am Morgen Tischreden in Kapellen und am Abend in der evangelischen Kirche in Alpen - in Luther-Robe mit Umhang und Barrett auf dem Kopf.

Jörg Zimmer (51) aus Moers liest am heutigen Feiertag am Morgen Tischreden in Kapellen und am Abend in der evangelischen Kirche in Alpen - in Luther-Robe mit Umhang und Barrett auf dem Kopf.

Foto: Armin Fischer

"Man darf nicht den Fehler machen, Martin Luther auf ein Podest zu stellen": Nur wenige haben sich wie Jörg Zimmer so intensiv auseinandergesetzt mit dem Mann, der am 31. Oktober 1517, vor 500 Jahren, seine 95 Thesen an das Portal der Kirche in Wittenberg genagelt hat - Geburtsstunde der Evangelischen Kirche. Der 51-jährige Moerser, Familienvater, im Hauptberuf bei der Sparkasse am Niederrhein zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und nebenbei unter anderem Lehrbeauftragter der Uni Duisburg-Essen, sitzt zur Zeit in jeder freien Minute an seiner Doktorarbeit: "Die Bedeutung von Sprichwörtern in Martin Luthers Ringen um ein allgemeinverständliches Deutsch", so der Titel. "4987 Sprichwörter und Redensarten hat Luther in seinen Predigten eingesetzt - einzig und allein, damit die Menschen den Bibeltext verstehen", sagt Jörg Zimmer. "Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein", ist das wohl bekannteste, "Wer über sich haut, dem fallen die Späne in die Augen" eine weitere Redensart. Genau wie "Wes das Herz voll ist, des geht dem Munde über".

Und das Herz von Martin Luther (1483-1546) war übervoll, als er im letzten Drittel seines Lebens die Redewendungen neu entdeckt hat. Die Heilige Schrift´sei ein Buch, das nicht die Gelehrten verstehen sollen, sondern die einfachsten und albernsten Menschen, soll der Reformator gesagt haben, als er sich daran machte, die Bibel aus dem Lateinischen/Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen. Ein Schulsystem gab es nicht, neun von zehn Menschen seien damals Analphabeten gewesen, hätten gar nicht verstehen können, was in der Heiligen Schrift stand. 1534 kam die erste Luther-Bibel auf den Markt. "Wenn Luther nicht gewesen wäre, würden wir alle noch Platt sprechen: Er hat Hochdeutsch ins Land gebracht", sagt Jörg Zimmer.

Sicher, Luther habe polarisiert, mit dem Glauben gehadert. Juristen habe er gehasst wie die Pest, vermutlich, weil ihn der strenge Vater zum Jurastudium gezwungen hatte. Er habe eine schwere Kindheit erlebt, sei vom Vater oft verprügelt worden. "Das Erlebnis eines strafenden Vaters hat Martin Luther auf sein Gottesbild übertragen", so Zimmer. Wochen-, ja monatelang habe er mit der Frage gerungen: "Wie mach' ich alles richtig, um Gott zu gefallen?" In einem Kloster traf Luther auf Johannes von Staupitz, Ordensgeneral der Augustiner.

Der habe ihm die Augen geöffnet, nachdem er (Luther) ihm erzählt hatte, dass ihm im Traum Christus erschienen sei und ihn erschreckt habe. "Das macht Christus nicht: Er tröstet", wird von Staupitz zitiert, der Luther 1518 aus dem Orden entlassen musste, weil der seine 95 Thesen nicht widerrufen wollte. "Wenn ihr mich nicht aus der Bibel widerlegt, werde ich meine Thesen nicht widerrufen", so Martin Luther, der keine neue Kirche erfinden, sondern sie reformieren wollte. Jahre später schreibt von Staupitz in einem Brief an Luther: "Du hast uns von den Trebern der Schweine auf die Weide des Lebens geführt."

Bis zum 31. Oktober 1517 war die römisch-katholische Kirche in Deutschland Volkskirche. "Dann kommt da dieser Luther und sagt: Was der Papst da so verkaufen lässt, ist völliger Quatsch. Ich habe die Bibel gelesen, da steht nichts davon drin, dass man sich seine Sünden freikaufen kann." Ablassbriefe wurden vor 500 Jahren im Land verteilt. Mit deren Kauf konnten die Menschen die Zeit der Buße für ihre Sünden verkürzen - für Luther eine Verrohung der Sitten: "Ich kann ja ruhig sündigen, ich kann mich ja dafür freikaufen." Er soll, so heißt es, den damaligen Papst Leo X. anfangs gar noch verteidigt haben, "als der aus Geldnot auf die glorreiche Idee kam, Ablassbriefe zu verkaufen", sagt Jörg Zimmer, der übrigens sicher ist, dass der Türkenkrieg (1526 bis 1530) dazu geführt hat, "dass sich die Reformation im Reich stärker entwickeln konnte, als sie es sonst getan hätte."

Depressiv sei Luther gewesen, oft krank. Aber frauenfeindlich, zotig, anzüglich? "Nein, das war er nicht, das gefiel ihm nicht", sagt Zimmer. Seine Frau Katharina, die ihm stets den Rücken freigehalten und mit der er sechs Kinder hatte - zwei Töchter starben jung -, soll Martin Luther unendlich geliebt, ihr viele Freiheiten eingeräumt haben. Auch seine Kinder, für die er das Weihnachtslied "Vom Himmel hoch, da komm' ich her" geschrieben hat, hätten einen wichtigen Platz in seinem Herzen gehabt - auch wenn eine Redensart "wer seine Kinder liebt, der nimmt auch die Rute mit" Luther zugeschrieben werde.

Zimmer räumt einen dunklen Punkt im Leben Luthers ein: den Antisemitismus. "Es stimmt, dass er gesagt hat: Zündet ihre Synagogen an, entzieht ihnen die wirtschaftlichen Grundlagen. Aber er hat nie gesagt: Bringt die Juden um!" Luther habe Juden theologisch abgelehnt, weil sie in der Christwerdung steckengeblieben seien, sagt der 51-Jährige, der seine Magisterarbeit über Luthers Tischreden geschrieben hat. Von seiner Doktormutter, Professorin Gaby Herchert an der Universität Duisburg-Essen, sei er zur Dissertation überredet worden, an der er seit drei Jahren arbeite.

Ohne seine Großmutter hätte Jörg Zimmer sich wohl nie mit Luther beschäftigt. "Hier, mein Junge, hast du 50 Pfennig, geh' mal in den Kindergottesdienst", hatte Oma Anni gesagt und ihm so den Weg in die Kirche geebnet. Wie er den Reformationstag verbringt, der wegen des Jubiläums bundesweit ein Feiertag ist? "Morgens lese ich in Kapellen Tischreden, abends um 19 Uhr in der evangelischen Kirche in Alpen." In Luther-Robe: schwarzer Umhang, Barrett auf dem Kopf.

(jas)
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