Stadt Willich Spiegelungen: Für eine Schule des Sehens

Stadt Willich · "Im Widerschein der Wirklichkeit" hat der Schiefbahner Lyriker Marcell Feldberg seinen neuen Gedichte-Band im Radius-Verlag Stuttgart genannt. Dafür schöpft er aus seinem ganz privaten "Archiv der Bilder".

Nach "Spiegelungen" von 2013 setzt Marcell Feldberg sein Archiv der Bilder im neuen Gedichtband "Im Widerschein der Wirklichkeit" mit anderen Mitteln fort - und wiederum ist Feldberg ein starker Auftritt gelungen. Man kann das Buch auf zweierlei Weise lesen: Einmal die Texte nur lesen, in ihre Bezüge eintauchen und sich an ihrer Sprache erfreuen oder man kann mit einem Notebook daneben versuchen, die Bilder aus Feldbergs Archiv aufzurufen und so aus der Verbindung von Text und Bild Honig zu saugen. Von Fall zu Fall kann man auch an den Ort der Initialzündung gehen, wie etwa bei Seite 100, auf der es um die Kapelle Klein-Jerusalem in Neersen geht - vielmehr um den "Ort, an dem der Stern versunken ist." Im Boden der Unterkirche ist der als Sonne dargestellte Stern von Bethlehem zu finden.

Wir werden auch an die große Fotoausstellung von Wim Wenders 2015 im Düsseldorfer Museum Kunst Palast erinnert. Feldberg nimmt Wenders Fotografie "Landschaft bei Wittenberg" zum Anlass, an Rembrandts Landschafts-Radierungen zu denken. Wenders schreibt: "Als ich klein war, hingen über meinem Bett immer zwei billige gerahmte Drucke von Camille Corots Bildern. Stundenlang habe ich die Details der Bäume darauf studiert. Und eines Tages stand ich in der brandenburgischen Elbtalaue vor genau solchen Bäumen." (Wittenberg liegt zwar an der Elbe, aber in Sachsen-Anhalt. Anm. d. Red.)

Aber nicht nur auf Museums- und Galeriebesuchen in der Region oder auf Radtouren am Niederrhein findet Feldberg neue Motive für sein persönliches Archiv. Auch auf seinen Reisen entdeckt er Bilder in den Museen neu - und deponiert sie, wie Sedimente, die langsam absinken, in seinem roten Buch. Die Spiegelungen des Dichters widmen sich höchst unterschiedlichen Motiven. "Nackte Nächstenliebe" nennt Feldberg die Caritas, von Lucas Cranach d.Ä. 1536 gemalt: "eine schamlose Schönheit aus dem Tugendkatalog". In Zürich sieht er sich Edvard Munchs "Zum Walde" an und zieht den Schluss: "Seelenzustände, (die) arg betrogen in die Leere einer Scheinwelt führen." Die Bilder und ihre Spiegelungen im Text sind eine doppelte Sehschule.

Für seine Freundin, die Wiener Dichterin Friederike Mayröcker, verbindet er eine Mutter mit Kind morgens an der Bushaltestelle mit "Maria mit Kind und Buch", von Botticelli 1483 gemalt. Auf der Biennale in Venedig findet Feldberg "Johannes den Täufer" im Pavillon von Rudolf Stingel. Und wer das Bild aufruft, versteht sofort die Textpassage vom "kleinen Heiligenfenster, in die Teppichwand eingelassen."

Wirklich erlebt hat Feldberg bei einem Besuch in Amsterdam, wie Rembrandts "Nachtwache" von original kostümierten Niederländern als "Tableau Vivant" nachgestellt wurde: Er beobachtet eine Verkäuferin, "die noch ein Hühnchen zu rupfen hatte mit den Schaulustigen, Gaffern und Touristen." Zur Verwirrung der Umstehenden schienen sie dem Bild entstiegen zu sein. Die gewählten Bilder sind höchst unterschiedlich, bekannte Meisterwerke wechseln mit persönlichen Entdeckungen. Feldberg nähert sich den Bildern oder Erinnerungen ebenso verschieden. Immer wieder arbeitet er mit Collagen oder Montagen. Und immer wieder werden Schnipsel aus Lesefrüchten in die Texte hineinmontiert, kursiv als Zitate gekennzeichnet. Es kann eine Überschrift aus der Zeitung sein oder der Buchtitel "Nach dem Ende der Schönheit" (von Haris Vlavianos).

Manches scheint unwirklich oder erfunden, wie der Satz aus "Nah am Wasser": "Aus der Orgel fährt ein Schiff hervor." Doch die Orgel von St. Martini in Emmerich hat das Register "Nebelhorn". Wenn es gezogen wird, fährt zum Klang zweier Basspfeifen wirklich ein Schiffsmodell aus der Orgel heraus. Feldberg hat eine Riesenmaterialsammlung an Prospekten, Broschüren, die ihm beim Schreiben hilft. Er verlinkt und kombiniert höchst unterschiedliche Dinge und hat großen Spaß dabei, damit zu spielen. Meistens liegen beim Schreiben links und rechts weitere Bücher aufgeschlagen. Auch Filme gelangen immer wieder in sein Archiv der Bilder, etwa die experimentellen tagebuchartigen Filme von Jonas Mekas, der aus Litauen nach Deutschland verschleppt wurde und später nach Amerika auswanderte. Oder die Überblendungen in Andrei Tarkowskis Film "Nostalghia". Diese Technik des russischen Filmemachers lässt sich literarisch wunderbar nachahmen. Ausprobiert hat Feldberg dazu das Gedicht im Gedicht "Spätherbstsonne" (S. 102), separat oder durchgehend zu lesen. Überaus kunstvoll.

Alle Versatzstücke können in seinen Texten wiederum eine ganz andere Bedeutung erhalten, so dass man nicht alles wissen muss, woher was stammt, um den Sinn der Texte zu entschlüsseln. Auch seinem Lieblingsbuchhändler Rudolf Müller im Düsseldorfer Heine-Haus widmet er den Text "Vorhersage" mit Impressionen vom Urlaub auf Ameland: "Strandspaziergang mit Blick auf das graue Vlies der Flut". Auch die beiden Windhunde Paco und Viona der Buchhändler Müller und Böhm wurden in "Remember me" verewigt. Das zitierte Café Müller ist aber auch eine Choreographie von Pina Bausch, und das "Remember Me" stammt aus der Oper "Dido und Aeneas" von Henry Purcell. Und natürlich war Feldberg in Triest im Antiquariat Umberto Saba. Die Mehrsprachigkeit des Dichters - Italienisch, Deutsch, Slowenisch - fasziniert Feldberg: "Da geht bei mir das Hirn auf." Wir folgen ihm gern und ziehen vor dem "Widerschein der Wirklichkeit" den Hut.

(RP)
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