Stadt Willich Eine Reise ins Ungewisse

Stadt Willich · Heimatfreunde, Bürgerverein Anrath und Stadtarchivar Udo Holzenthal arbeiten an einer Ausstellung über Vertriebene nach 1945.

 Udo Holzenthal (von links), Jürgen Meyer, Manfred Adomat, Lukas Maaßen, Mechthild Zuschlag, Franz-Josef Jansen, Bernd-Dieter Röhrscheid und Harald Brülls präsentierten jetzt die Zwischenergebnisse ihrer Arbeit.

Udo Holzenthal (von links), Jürgen Meyer, Manfred Adomat, Lukas Maaßen, Mechthild Zuschlag, Franz-Josef Jansen, Bernd-Dieter Röhrscheid und Harald Brülls präsentierten jetzt die Zwischenergebnisse ihrer Arbeit.

Foto: Marc Schütz

Acht Minuten lang ist der Zusammenschnitt, den Harald Brülls aus elf Zeitzeugen-Interviews gefertigt hat. Acht Minuten, die nicht annähernd das beschreiben können, was die Menschen, die damals noch Kinder waren, nach dem Zweiten Weltkrieg vor, während und nach ihrer Flucht aus Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen erlebt haben. "Nachts um 2 Uhr klopfte der Bürgermeister ans Schlafzimmerfenster und sagte: ,Spannt die Pferde an, der Russe kommt!", erinnert sich ein Zeitzeuge an jene Nacht, in der von jetzt auf gleich alles hinter sich lassen musste. "Es waren 27 Grad Minus, es lag hoher Schnee, die Pferde konnten kaum den Wagen ziehen." Dann versagt seine Stimme.

Heute, Jahrzehnte später, haben die Zeitzeugen in Willich, Anrath, Schiefbahn und Neersen eine zweite Heimat gefunden. Die Videos sind Teil der Ausstellung "Reise ins Ungewisse", die die Heimat- und Geschichtsfreunde Willich, der Heimatverein Anrath und Stadtarchivar Udo Holzenthal seit mehr als einem Jahr vorbereiten. Und es liegt noch viel Arbeit vor ihnen, bevor die Ausstellung im Oktober gezeigt werden kann.

165 prall gefüllte Aktenordner mit fast 5000 Einzelakten haben die Helfer in mehr als 600 Stunden digitalisiert und analysiert, um eine Idee davon zu bekommen, was es für die Flüchtlinge und Vertriebenen bedeutet haben muss, ihre Heimat zu verlassen und sich Hunderte Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ein neues Leben aufbauen zu müssen - und das, obwohl sie längst nicht bei allen willkommen waren. Mehr als 5000 Vertriebene kamen auf etwa 31.000 Einwohner, die in den damals noch selbstständigen Gemeinden Willich, Anrath, Schiefbahn und Neersen lebten. Nach einer strapaziösen Flucht, während der sie teilweise Furchtbares erlebt und nicht selten Angehörige verloren haben, wurden sie in Behelfsunterkünften untergebracht - in der Josefshalle oder dem Gesellschaftshaus der Verseidag in Anrath oder in der heutigen Kulturhalle in Schiefbahn beispielsweise.

"Ab Oktober werden wir die Personen- und Fluchtdaten auf der Homepage der Stadt online stellen. Bürger können dann dort nach ihren Verwandten suchen und bei Bedarf in unserem Beisein Einsicht in die Originalakten nehmen", sagt Bernd-Dieter Röhrscheid, Kurator der Ausstellung, die neben den eindrucksvollen Interview-Videos unzählige Original-Dokumente, Fotos, Zeitungsausschnitte, Kurzbiografien und Karten enthält. Zahlreiche digitale Karten hat Lukas Maaßen angefertigt, um die Wege der Flüchtlinge und Vertriebenen von Breslau in Schlesien (233 Personen), Elbing in West-Preußen (144), Königsberg in Ostpreußen (94), Stettin in Pommern (70) und vielen anderen Orten ins heutige Willich zu visualisieren.

Auf manche Besonderheit sind die Forscher dabei gestoßen. So zum Beispiel auf die Tatsache, dass vergleichsweise viele Katholiken herkamen (etwa ein Drittel der Flüchtlinge). "Viele Katholiken aus Schlesien wollten in katholische Gebiete, deswegen sind sie nach Willich, Anrath, Neersen und Schiefbahn gekommen. In anderen Gebieten war der Anteil der Katholiken noch geringer", sagt Bernd-Dieter Röhrscheid. Und dann gab es auch nicht wenige, die in Anrath geboren wurden und nach Schlesien zogen und später als Vertriebene in ihre Heimat zurückkehrten.

Eingebunden ist die Willicher Ausstellung in das Projekt "Unterwegs", das der Verein "Kulturraum Niederrhein" initiiert hat. Auch die Finanzierung erfolgt auf diese Weise.

(RP)
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