Serie Vor 70 Jahren "Die Notlage ist himmelschreiend"

Stadt Willich · Zwar schwiegen im Kreis Kempen-Krefeld die Waffen schon seit zweieinhalb Jahren, aber ein Höhepunkt der allgemeinen Not stand noch bevor. Denn erst in der zweiten Jahreshälfte 1947 erreichte das Elend seinen Höhepunkt.

 Der Kempener Buttermarkt mit dem zerstörten Rathaus (rechts).

Der Kempener Buttermarkt mit dem zerstörten Rathaus (rechts).

Foto: Kreisarchiv

Genau 70 Jahre später ist es kaum vorstellbar, dass am 8. August 1947 die Versorgung der Bevölkerung "mit Kartoffeln und Kohle Hauptgegenstand der Beratung" des Kreistages war. In regelmäßigen Abständen hatte der Oberkreisdirektor in Kempen der Militärregierung ausführlich schriftlich die Lage darzustellen. Im August 1947 berichtete er: "Mit der größten Sorge sieht die Bevölkerung dem kommenden Winter entgegen, zumal die anhaltende Trockenheit alle bisher gehegten Hoffnungen auf eine gute Spätkartoffel-, Hackfrucht- und Gemüseernte zu zerstören droht. Das von den meisten Kleingartenbesitzern angebaute Gemüse, das eine Aufbesserung des normalen Kaloriensatzes hätte erbringen können, ist der ausdörrenden Hitze bereits zum Opfer gefallen."

Die Sorge vor dem Winter spitzte sich weiter zu. Im Oktober liest man: "Die brennendsten Probleme, welche die Kreisverwaltung und die Gemeindeverwaltungen z. Zt. beschäftigen, sind die der Kartoffeleinkellerung und der Brennstoffversorgung für den kommenden Notwinter. Ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung des hiesigen Landkreises ist heute noch ohne Einkellerungskartoffeln. ... Der unerträgliche Mangel an Hausbrand wird, selbst wenn die angekündigte Lieferung von 7 Zentner Steinkohleneinheiten je Familie eingehalten werden sollte, in den kommenden Wintermonaten viele Haushaltungen vor eine harte Probe stellen."

Verschärft wurde die katastrophale Lage durch die Probleme, die die Unterbringung und Versorgung der vielen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten des untergegangenen Deutschen Reiches bereiteten. Ihre Verteilung auf Einzelquartiere zählte Oberkreisdirektor Ludwig Feinendegen im Oktober 1947 "zu den aktuellsten Problemen." Und: "Die Notlage der Flüchtlinge selbst in Bezug auf Fußbekleidung, Unter- und Säuglingswäsche und sonstigen Artikeln des lebensnotwendigen Bedarfs ist himmelschreiend."

Schließlich seien beispielhaft noch zwei gravierende Einzelprobleme genannt: "Ausschlaggebend" für die Britische Zone war die Dülkener Nähgarnindustrie. Gleiches galt für verschiedene Großbetriebe in Lobberich. Hier begrenzte die neuerlich am Tage angeordnete Stromsperre die Produktion. Zu der in den Fabriken eingeführten Nachtarbeit sahen sich viele Arbeiter "auf Grund der miserablen Ernährungslage nicht im Stande."

Vor dem Nichts standen viele vor Kriegsende evakuierte und nach und nach zurückkehrende Menschen, was der Oberkreisdirektor im Oktober 1947 wie folgt schilderte: "Große Not und Missstände werden von den Grenzgemeinden des hiesigen Kreises gemeldet. Die Einwohner der Grenzgemeinden wurden im November 1944 zu 80 % zwangsevakuiert. Die meisten Evakuierten befanden sich in den jetzt von den Russen besetzten Gebieten. Der größte Teil an mitgenommener Wäsche und sonstigen Einrichtungsgegenständen verblieb in der russischen Zone. Die Wohnungen der Rückkehrer waren daher vollständig leer."

Mitte Oktober 1947 ist die Lage erneut brisanter geworden: "Die Schwierigkeiten häufen sich von Tag zu Tag. Nachdem in den letzten Tagen bekannt wurde, dass vorläufig nur 25 kg Kartoffel für die Einkellerung bereit gestellt werden können, hat seitens der Bevölkerung der benachbarten Großstädte auf die Weißkohlfelder des Kreises ein Sturm stattgefunden. Weder die Bauern noch die alarmierte Polizei waren in der Lage, der gewaltsamen Wegnahme Widerstand zu leisten. Alle diese Vorzeichen deuten auf eine Katastrophe auf dem Ernährungssektor im kommenden Winter hin."

Es musste erst das Jahr 1948 kommen, als mit dem Marshallplan und der Währungsreform konkrete Maßnahmen Platz griffen, die zeigten, dass das Schlimmste überwunden war.

(RP)
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