Stadt Willich Das Ehrenamt ersetzt Psychopharmaka

Stadt Willich · Die Einrichtung "Unser Haus" der Lebenshilfe Kreis Viersen feiert in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Noch nicht ganz so alt, aber dafür nicht minder bekannt ist das Konzept "Ehrenamt rückwärts".

 Sabrina Minten hilft Martina, Franz, Sonja und Joshua bei ihren Aufgaben. Die Menschen mit Schwerstbehinderung leisten ehrenamtliche Arbeiten für andere soziale Organisationen.

Sabrina Minten hilft Martina, Franz, Sonja und Joshua bei ihren Aufgaben. Die Menschen mit Schwerstbehinderung leisten ehrenamtliche Arbeiten für andere soziale Organisationen.

Foto: Wolfgang Kaiser

Auf dem großen Esstisch der Intensivgruppen von "Unser Haus" der Lebenshilfe Kreis Viersen in Willich steht ein Karton mit Hunderten von Briefumschlägen. Stück für Stück nimmt Martina heraus und stempelt jeden Umschlag sorgfältig. "Ich mache auch mit", sagt Franz und setzt sich dazu. Sekunden später ist auch er in die Arbeit vertieft. Am Tisch wird es noch voller, denn Sabrina Minten, die Leiterin der Tagesbetreuung, hat jede Menge aus Pappmaché geformte Hasenköpfe hinzugelegt, Sie sind für den Osterbasar bestimmt. Diese nun anzumalen, ist eine Tätigkeit, die Joshua gefällt. Während er zu Pinsel und Farben greift, kann sich Sonja noch nicht entschließen, ob sie mitmachen möchte. Ruhig sitzt sie da und beobachtet. Markus hingegen spricht keins der beiden Angebote an. "Ich patche", meint der junge Mann und nimmt, begleitet von der pädagogischen Mitarbeiterin Birgitt Szittnick, an der Patchmaschine Platz. Absolut akkurat patcht er Namensschilder in die diversen Kleidungsstücke.

Bei den beiden Intensivgruppen, die in der oberen Etage von "Unser Haus" leben, läuft "Ehrenamt rückwärts". Menschen mit Schwerstbehinderung leisten ehrenamtliche Arbeiten für andere soziale Organisationen. Ein Projekt, das es seit einigen Jahren gibt und das hervorragend ankommt. "Bei unseren Intensivgruppenbewohnern handelt es sich um schwerst verhaltensauffällige Menschen. Sie können nicht in unseren Werkstätten arbeiten, damit sind sie völlig überfordert. Aber jeder Mensch kann etwas, und man muss nur herausfinden, was es ist. Und diese Möglichkeit des sich Einbringens schafft Zufriedenheit", sagt Bereichsleiterin Esther Mand. Zudem kommt ein zweiter positiver Aspekt ins Spiel. Auf die Psychopharmaka, die sonst helfen, Ruhe in die Gruppen hineinzubringen, kann verzichtet werden. Sie werden nicht mehr benötigt.

Den Anstoß zum Projekt "Ehrenamt rückwärts" gab Mand. "Ich komme aus einem Pastorenhaushalt und kann ich mich noch daran erinnern, wie in meiner Kindheit jeden Tag eine Frau bei uns in der Küche saß und Kartoffeln auf die für sie typische Weise schälte", erinnert sich Mand. Sie fragte ihre Mutter nach der Frau und erfuhr, dass sie schwerstbehindert war, aber über diese Arbeit, die sie gerne verrichtete, Bestätigung und Wertschätzung inklusive Familienanschluss fand. An diese Begebenheit dachte Mand zurück und spannte das Team ein, um gemeinsam zu überlegen, was jeder einzelne Bewohner kann. Wer bist du, was machst du, was kannst du, lautete die Methode. Franz, der von einem Bauernhof kommt, mäht so für sein Leben gerne Rasen. "Wir haben ihn unseren Rasen schneiden lassen. Doch das kann man nicht jeden Tag machen. Also haben wir uns bei anderen sozialen Einrichtungen umgehört, wo Rasen gemäht werden sollte", berichtet Mand aus der Praxis. Heute ist Franz nicht nur der Mann für den Rasen, er hält den gesamten Garten von "Unser Haus" in Ordnung. Er hat sogar ein kleines Treibhaus bekommen. "Ich baue Tomaten und Salat an", erzählt Franz voller Begeisterung und fügt an, dass er auch mithilft, den Gemeindebrief auszutragen. Markus entdeckte seine Begeisterung fürs Patchen. "Wir haben Aufträge von anderen Lebenshilfe-Einrichtungen und versehen deren Bekleidung mit Namensschildern", erzählt Mand. Auf diesem Weg wuchs das Projekt "Ehrenamt rückwärts" Stück für Stück. Rosen drehen für den Schützenverein, Briefe kuvertieren, Rasen mähen, das Eintüten von Drucksachen, Tischwäsche mangeln, das Verteilen von Gemeindebriefen, die Mithilfe bei der Willicher Tafel - die Aufgaben sind vielfältiger Natur. "Arbeit ist ein therapeutisches Mittel", hebt Mand hervor. Jeder der Bewohner macht dabei das, was ihm oder ihr liegt. Jeder trägt auf diesem Weg freiwillig etwas zur Gemeinschaft bei und das erfüllt alle mit Stolz. Anderen Menschen etwas geben und nicht nur Hilfe annehmen, das ist der Punkt.

Wenn im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements Anfragen für eine Aufgabe eingehen, überlegt das Team, ob die Übernahme möglich ist. Gern erinnert sich Mand an das Verpacken von 5000 Prospekten für den Landesverband im vergangenen Jahr. "Wir haben uns riesig gefreut, als der Lkw mit der Arbeit kam", sagt Mand. Zur Belohnung gab es für alle eine Woche Urlaub in einer der Urlaubseinrichtungen.

(tref)
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