Wesel Wie Wesel sich nach dem Krieg neu fand

Wesel · Vom Suchen und Finden zu Ostern: Aus dem völligen Verlust Alt-Wesels 1945 erwuchs die Kraft für eine Auferstehung.

 Zweimal der Blick vom Turm des Doms über die Stadt Richtung Wasserturm: links die Trümmerwüste des zu 97,3 Prozent zerstörten Alt-Wesels von 1945, rechts die Jetztzeit

Zweimal der Blick vom Turm des Doms über die Stadt Richtung Wasserturm: links die Trümmerwüste des zu 97,3 Prozent zerstörten Alt-Wesels von 1945, rechts die Jetztzeit

Foto: Ekkehart Malz

Kein Februar ohne Erinnerung an den zerstörerischen des Jahres 1945. Kein März ohne Gedenken der Opfer rund um die Luftlandung der Alliierten: Die beiden Ereignisse werden besonders zu runden Jahrestagen wie jetzt - 70 Jahre danach - beleuchtet. Auch zur bitteren Not der Nachkriegsjahre ist viel gesagt. Zu kurz kam lange die Auseinandersetzung mit dem Wiederaufbau. Es war eben kein punktuell festzumachendes Geschehen, sondern etwas Schleichendes, Langwieriges, im Ergebnis später auch oft Verurteiltes. Antonius Franken und Heike Kemper legten in den 80er Jahren wichtige Arbeiten über die Zeit vor. Richtig in Gang kam die öffentliche Würdigung der Arbeitsleistung und der Architektur ab 2008, als das Stadtarchiv eine DVD und ein Buch herausbrachte, es zahlreiche hochkarätige Veranstaltungen und eine Ausstellung gab.

Wesel: Wie Wesel sich nach dem Krieg neu fand
Foto: Malz, Ekkehart (ema)

Für die Zeitzeugen, die Jahrzehnte auf diese Momente gewartet hatten, war es eine frohe Botschaft. Geradezu österlich. Eine zweite Auferstehung nach der Bauphase, als Wesel sich nach dem völligen Verlust seines steinernen Erbes und mühevollem Suchen neu finden musste.

Gerda Tenbruck (88) war fast auf den Tag genau vor 70 Jahren dabei, als das britische Militär ihren Großvater Jean Groos zum ersten Nachkriegs-Bürgermeister ernannte, die Geschäfte wegen dessen hohen Alters aber im Wesentlichen von ihrem Vater Wilhelm geführt wurden. Albert Kisters und Wilhelm Grube komplettierten das Vertrauensleute-Quartett der ersten Stunde. Wilhelm Groos hatte noch ein Fläschchen Tinte und seine Tochter einen Füllfederhalter. Tenbruck wurde die rechte Hand der ersten Stadtverwaltung, was sie zu einer bis heute viel gefragten Zeitzeugin machte. Mangel bestimmte den Alltag. Wo war noch ein Klempner zu finden und wo eine Pumpe, damit bei Hülshorst Brot gebacken werden konnte? Wo gab es Schreibpapier? Wer konnte zurückkehrende Evakuierte aufnehmen? Wie konnte man Schwester Ortrud bei der Errichtung eines neuen Krankenhauses in der Obrighovener Villa Heinisch unterstützen? Wie kann man dafür sorgen, dass alle Behörden, Krankenkassen, Banken und Versorger in der zerstörten Stadt ansässig bleiben? Wie kam die Werftbahn in Gang?

Hinzu kam die Frage, wie der politische Neubeginn ohne vorbelastetes Fachpersonal geregelt werden sollte. Erst Mitte August 1946 konnte mit der systematischen Enttrümmerung der Stadt begonnen werden, zwei Jahre später mit dem Wiederaufbau der Stadt. Der sollte als Chance genutzt werden, von kleinsten Parzellen wegzukommen und eine Planung für die urbanen Anforderungen der Zukunft anzulegen.

Architekt Werner Brücker, der im vergangenen Dezember im Alter von 89 Jahren gestorben ist, war als Spätheimkehrer (1947) mit Notabitur zunächst Lehrling auf dem städtischen Bauamt. Für 24 Mark im Monat. Nach Studium und einigen Jahren beim Bauverein machte er sich 1955 selbstständig und baute als erstes Projekt für sich selbst ein Mehrfamilienhaus an der Tückingstraße. Vertriebene aus dem Osten wurden mit sogenannter Doppelbelegung einquartiert. Ab Fertigstellung 1956 lebten in Brückers Haus für zwei Jahre in jeder der zwölf Wohnungen (zwei Zimmer, Küche, Bad) zwei Familien. Wer später Wesels Gesamt-Optik kritisierte, der bekam von Brücker stets zu hören, dass er wohl "keine Vorstellung davon hat, wie erbärmlich die Menschen nach dem Krieg hausen mussten". Es sei nicht um architektonische Wunderwerke gegangen, sondern um menschenwürdige Unterkünfte.

Schnell und billig Wohnraum zu schaffen, war schon schwer genug. Es mussten aber auch möglichst viele Arbeitsplätze her. Gezielte Wirtschaftsförderung sollte Betriebe anlocken. Außerdem sollte Wesel wieder die Einkaufsstadt am Niederrhein werden, die es einmal war. Behörden brauchten ein neues Rathaus und Schüler Schulen. Zur ursprünglichen Einwohnerschaft kamen in den 50er Jahren viele Vertriebene und Flüchtlinge hinzu. So zählte Wesel 1960 bereits gut 30 000 Einwohner, 5000 mehr als vor dem Krieg.

Dass der Wiederaufbau zu einer Erfolgsgeschichte wurde, schrieb Stadtarchivar Dr. Martin Roelen 2010 in einem Vortrag bei der Historischen Vereinigung vielen, aber besonders drei Personen zu: Ewald Fournell, tatkräftiger Bürgermeister von 1948 bis 1952, sorgte dafür, dass Dr. Karl-Heinz Reuber Wesel am 1. April 1950 als Stadtdirektor nach Wesel kam, um mehr frischen Wind in die Projekte zu bringen. Die Ära Reuber dauerte bis 1970. Er war fleißig, durchsetzungsfähig und besaß geniale Fähigkeiten, Geld in die Stadt zu holen. Erinnert sei nur an den Kniff, dass ein Mädchengymnasium (heute Andreas-Vesalius-Gymnasium) schließlich auch eine Aula haben muss. So kam die Stadt mit Fördermitteln ans Bühnenhaus. Während die Namen Fournell und Reuber vielen Weselern noch etwas sagen, ist der von Philipp Rappaport schon fast in Vergessenheit geraten. Der Direktor des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk war maßgeblich an der Entwicklung von Leitlinien für den Wiederaufbau beteiligt und warb vielerorts vehement dafür, Fehler zu vermeiden. Er wollte keine Provisorien, sondern eine "zeitgemäße Architektur", die den Umständen entsprach.

Auch beim Wiederaufbau Wesels spielten vorhandene Einrichtungen eine Rolle. Das Abwassernetz war noch so wertvoll, dass es den Neubau Wesels an Ort und Stelle mitrechtfertigte. So gibt es heute eine Stadt, die an vielen Stellen mittelalterliche Straßenverläufe behalten hat. Mit etwas Gespür und fachkundiger Hilfe kann man Geschichte atmen. Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wohin er geht.

(RP)
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