Schermbeck Flüchtlingen eine Stimme geben

Schermbeck · Pfarrer i. R. Wolfgang Bornebusch interviewt Flüchtlinge in Schermbeck. Er will ihre Fluchtgeschichten festhalten. Dies sind Auszüge eines Berichts.

 Interviewer und Interviewter: In seinem Arbeitszimmer arbeitet Wolfgang Bornebusch an den Flüchtlingsporträts. Ali Rasouli in dem Friseursalon, in dem er arbeitet.

Interviewer und Interviewter: In seinem Arbeitszimmer arbeitet Wolfgang Bornebusch an den Flüchtlingsporträts. Ali Rasouli in dem Friseursalon, in dem er arbeitet.

Foto: Hermann/privat

Ali Rasouli wird so manchem Schermbecker bekannt sein, weil er von ihm die Haare geschnitten bekam. Er ist Friseur und arbeitet im "Schermbecker Haarstudio" von Muwafaq und Jutta Talib Hashim im Kerkerfeld. Er ist 29 Jahre alt, kommt aus Afghanistan, ist schiitischer Muslim und spricht Dari, die in Afghanistan gesprochene Variante des Persischen. Rasouli wuchs auf in Herat, einer alten, bedeutenden Stadt im Westen Afghanistans unweit der Grenze zum Iran. Die kürzlich wieder aufgebaute Zitadelle aus der Zeit Alexander des Großen ist das Wahrzeichen. Vom 15. bis 17. Jahrhundert galt diese Stadt als das Florenz Asiens. Es war eine Stadt, in der Literatur, Kunst und Kultur zuhause waren. Noch heute ist die Stadt von strategischer Bedeutung. Sie liegt an den Handelsrouten, die den Iran mit Indien, China mit Europa verbinden.

Schermbeck: Flüchtlingen eine Stimme geben
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Schon als Kind begann er im Friseursalon seines Vaters zu arbeiten. Bereits mit 12 Jahren war er ein voll ausgebildeter Friseur und beherrschte sein Fach. Er lernte auch, Perücken und Toupets aus Eigenhaar zu fertigen. Sollte ein Schermbecker in dieser Richtung Bedarf haben, hat er jetzt eine Adresse. Morgens ging der junge Friseur übrigens - bis zum Abschluss nach der 10. Klasse - zur Schule. Nachmittags arbeitete er an der Seite seines Vaters.

Als Jahre später amerikanische und italienische Truppen bei Herat stationiert wurden, fuhr er einmal in der Woche hinaus zum Militärcamp und scherte den Soldaten das Haupt. Auf meine Frage, ob er da nicht Probleme mit den Taliban bekommen habe, bekomme ich zur Antwort: "Ja, so ein bisschen..." Dieses "bisschen", so wird nach mehrfachem Nachfragen deutlich, meint etwas, was alles andere als harmlos war. In den Augen der Taliban war er ein Kollaborateur. Und so passierte es denn eines Tages - er war mit seinem Auto unterwegs vom Militärlager zur Stadt - , dass ihm die Taliban, bewaffnet mit Kalaschnikows, auflauerten und ihn und sein Auto beschossen. Das Auto war anschließend ein Wrack. Er selbst landete im Krankenhaus.

Als er davon erzählt, krempelt er sein rechtes Hosenbein hoch und zeigt mir die Narbe, wo eine Kugel der Taliban eindrang. Und es blieb nicht bei diesem Überfall. Er war, so verstehe ich ihn, dauerhaft der Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt. Zeuge davon ist ein Drohbrief, den er von ihnen erhielt und den er noch heute hat - mit der Botschaft: "Beende deine Kollaboration mit den Amerikanern! Schließe dich uns an, den Taliban! Andernfalls...."

Ali Rasouli schloss sich den Taliban nicht an. Er entschied sich zu fliehen. Das war 2011. Er war 25 Jahre alt, bereits zwei Jahre verheiratet, und seine Frau Leilah war schwanger. Gemeinsam verließen sie (mit einem Auto) Afghanistan über die nahe Grenze zum Iran und flogen dann von Teheran nach Düsseldorf. Dass Deutschland das Ziel seiner Flucht sein sollte, stand für ihn - so erzählt er - von Anfang an außer Frage. In Deutschland - das war seine Vorstellung - würde er sicher sein, unbedroht, dort würde er eine Chance haben, Zukunft haben.

Möglich war die Realisierung der Flucht nur mit der massiven finanziellen Unterstützung der Familie: 30.000 Euro kostete ihn das Unternehmen (Visa, Transporte, Übernachtungen, Flüge... für zwei Personen), so sagt er. Über ein Aufnahmelager in der Nähe von Bielefeld wurde er samt Frau und Kind recht bald - nach 25 Tagen - Schermbeck zugewiesen, wo die drei zunächst im Flüchtlingsheim an der Alten Poststraße unterkamen. Inzwischen hat die Familie - dank der Unterstützung des Ehepaares Talib Hashim - Quartier und Ruhe gefunden in einer Wohnung am Alten Friedhof. Der vierjährige Abolfazl geht in den Kilian-Kindergarten. Eine Aufenthaltserlaubnis hat die Familie. Stolz zeigt Rasouli seinen Ausweis.

So scheint für Ali Rasouli, seine Frau, die ihr zweites Kind erwartet, und Sohn Abolfazl alles gut gelaufen zu sein - wären da nicht die Anschläge von Paris. Bisher fühlte sich die Familie in Deutschland willkommen, sicher, voller Hoffnung. Aber wird das so bleiben? Wird die Stimmung in Bezug auf die Flüchtlinge kippen? Er scheint Zweifel, Ängste und Befürchtungen zu haben. Außerdem fehlen ihm die Eltern und Geschwister. Eine Schwester und ein Bruder haben Afghanistan ebenfalls verlassen. Der Bruder lebt in Rostock, die Schwester in Hamburg. Der Rest der Familie ist noch in Afghanistan - meist. Ist die Sicherheitslage einigermaßen okay, halten sie sich in Herat auf. Wird es bedrohlich, verlassen sie Afghanistan in Richtung Iran, wo sie nahe der Grenze offensichtlich auch noch eine Bleibe haben. Gerne würde er sie besuchen. Nicht in Afghanistan. Da warten die Taliban auf ihn. Aber man könnte sich ja irgendwo im Iran treffen. Doch das muss noch warten...

(RP)
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