Wesel Ein neues Leben mit neuem Glauben

Wesel · Der Inder Jaswinder Singh ließ sich im Dom taufen. Die evangelische Kirche gab ihm Halt und neuen Lebensmut.

Jaswinder Singh wirkt gelöst, fast befreit. Er zeigt stolz das silberne Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hängt. Dabei hätte der 30-jährige Inder allen Grund, mit Skepsis in seine Zukunft zu schauen. Denn der Mann, der seit etwa zehn Jahren in Deutschland lebt, wird hier weiterhin nur geduldet, besitzt noch keine Arbeitserlaubnis und hat seit etwas mehr als zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen noch lebenden Familienangehörigen. Und dennoch: "Ich fühle mich jetzt innerlich stark", sagt Jaswinder Singh und führt dies vor allem auf ein Ereignis zurück, das nun etwa zwei Monate zurückliegt. Da ließ er sich im Willibrordi-Dom taufen, konvertierte zum Christentum (evangelische Kirche). Ab dem Zeitpunkt, als diese Entscheidung in ihm reifte, hat sich vieles geändert im Leben von Jaswinder Singh.

Doch zunächst ein Blick zurück: Am 15. Mai 1984 wird Jaswinder Singh in Jammu, einer Stadt im Norden Indiens, geboren. Er ist das jüngste von sechs Kindern und wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Als Kind macht er sich keinerlei Gedanken über die Religion. Seine Eltern sind Hinduisten, also geht auch er wie selbstverständlich mit in den Tempel. Sein Werdegang ist vorgezeichnet: Die örtliche Nähe zum Nachbarland Pakistan bedeutet für ihn nichts anderes, als Soldat zu werden, um im Grenzgebiet für sein Land zu kämpfen.

Doch seine Eltern haben anderes mit ihm im Sinn. Sie haben erlebt, wie Jaswinder Singhs älterer Bruder unter den ständigen Kriegshandlungen beider Länder leidet. "Mein Eltern wussten, dass auch für mich der Tag kommen würde, dass ich zum Militär muss. Deshalb beschlossen sie, dass ich Indien verlassen sollte", erzählt Singh.

Im Jahr 2002 ist es so weit. Der damals 18-Jährige verlässt Jammu zunächst in Richtung Neu-Delhi. Von dort aus besteigt er ein Flugzeug, das ihn nach Frankfurt bringt. Mit dem Zug geht's weiter nach Barcelona, wo er die nächsten zweieinhalb Jahre verbringt. "Es war recht einfach, dort zu leben. Ich brauchte kein Asyl, habe am Strand Tücher und Brillen verkauft und in einem leer stehenden Gebäude mit Menschen verschiedenster Nationen gelebt", berichtet Singh. Doch dieses Leben erfüllt ihn nicht wirklich. "Ich wollte etwas lernen und nicht nur einfach in den Tag hineinleben."

Im Sommer 2005 fasst er den Entschluss, nach Deutschland zu reisen. Ohne Gepäck, nur in kurzen Hosen und T-Shirt, ist Köln das Ziel, wo er einen indischen Tempel aufsucht. Dort nennt man ihm eine Adresse in Essen. Aber auch im Ruhrgebiet erwartet ihn nichts Neues: Er lebt illegal in einer Wohnung, Landsleute raten ihm davon ab, einen Asylantrag zu stellen. Jaswinder Singh tut es trotzdem, geht zur Polizei in Recklinghausen. Die bringt ihn nach Bielefeld, wo er einen Antrag stellt. Seine nächste Station ist Iserlohn und nach weiteren zweieinhalb Monaten landet er schließlich in Wesel, Flüchtlings-Unterkunft Fluthgrafstraße. Es ist der 5. April 2006.

Gegen alle Widerstände versucht Singh, Ordnung in sein Leben zu bringen, verbessert sein Englisch, bringt sich autodidaktisch die deutsche Sprache bei. 2007 erhält er sogar eine vorübergehende Arbeitserlaubnis. Er hilft nun in der Gärtnerei Hoffacker in Büderich aus und lernt so die "allerbesten Menschen in ganz Deutschland" kennen, wie Singh sie nennt. Doch die Sehnsucht nach mehr Kontinuität in seinem Leben ist weiterhin groß.

Dem gegenüber wächst das Misstrauen seiner ebenfalls in Deutschland lebenden Landsleute, die nicht verstehen können, warum er nicht mehr den Tempel aufsucht, warum er so viele Fragen stellt, warum er sein Leben nicht auf Unehrlichkeit aufbauen will und nach mehr Ordnung sucht. Er ist verzweifelt, sucht Trost im Alkohol, meidet das Asylheim immer mehr und verbringt seine Tage und Nächte immer häufiger am Rheinufer, in der Nähe der Brücke. Dort lernt er auch Wilhelm Brate kennen, spricht häufig mit ihm. Doch auch der freundliche, hilfsbereite Rentner aus Flüren kann ihn nicht davon abhalten, sich von der Rheinbrücke stürzen zu wollen. Im letzten Moment wird er jedoch zurückgehalten. Die psychiatrische Klinik in Dinslaken, in die er anschließend eingewiesen wird, ist der vorläufige Tiefpunkt seines Lebens.

Doch der Aufenthalt dort ist auch ein Wendepunkt. Nach seiner Entlassung sucht Singh den Willibrordi-Dom auf, der seit seiner Ankunft in Wesel eine große Faszination auf ihn ausgeübt hat. "Ich wollte da rein. Außerdem hat mich die evangelische Kirche und wofür sie steht, am meisten überzeugt", sagt der 30-Jährige. Er spricht mit Pfarrerin Sarah Brödenfeld. Ein Satz aus ihrer Unterhaltung hinterlässt große Wirkung bei Singh: "Du kannst nicht tiefer fallen, als Gottes Hände reichen."

Schon bald steht sein Entschluss fest, sich nach christlichem Glauben taufen zu lassen. Er entdeckt seinen Lebensmut wieder, trinkt seit Oktober vergangenen Jahres keinen Alkohol mehr. Anfang Februar zieht er in eine Wohngemeinschaft an der Hans-Böckler-Straße und hat dort "zum ersten Mal in meinem Leben ein eigenes Zimmer". Noch ist Jaswinder Singh nicht am Ende seines Weges angekommen. Aber die Zuversicht ist da, die weiteren Schritte zu meistern.

(me)
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