Schermbeck Die Ungewissheit nach der Odyssee

Schermbeck · Pfarrer i. R. Wolfgang Bornebusch befragt Flüchtlinge, die es nach Schermbeck verschlagen hat, nach ihren Lebensgeschichten, Erfahrungen und Problemen. Er schildert das Schicksal von Hussein Al-Jaboori und seiner Familie.

 Hussein Al-Jaboori (hinten links) mit Mitarbeitern der Caritas, Freunden und Helfern

Hussein Al-Jaboori (hinten links) mit Mitarbeitern der Caritas, Freunden und Helfern

Foto: PR

Nach einer längeren Pause will ich mich wieder den Geschichten der unter uns lebenden Flüchtlingen zuwenden. Diesmal bekomme ich es mit Hussein Al-Jaboori zu tun. Er ist 31 Jahre alt, kommt aus dem Irak und ist das Jüngste von insgesamt 15 Geschwistern. Sieben Schwestern hat er und genau so viel Brüder. Einer der älteren Brüder hatte zu Zeiten Husseins den Diktator öffentlich kritisiert. Er musste fliehen. Zunächst setzte er sich nach Saudi-Arabien ab. Heute lebt er mit der Familie in den USA.

Hussein wuchs auf einem Bauernhof mit zehn Kühen auf, zu klein, als dass die Familie von dem Ertrag hätte leben können. So betrieb man nebenher einen offenbar erfolgreichen Handel mit Diesel. Hussein bezeichnet seine Familie als durchaus wohlhabend.

Der Bauernhof der Familie liegt im südlichen Irak, in Faw, einem kleinen Dorf, etwa 110 Kilometer entfernt von der Metropole Basra. Um ihre Geschäfte zu machen, fuhren die Al-Jabooris ziemlich regelmäßig nach Basra, auch Hussein. Das blieb nicht verborgen - auch nicht der irakischen Mafia. So geschah es, dass man Hussein mit seinem Wagen auf dem Rückweg von Basra nach Faw anhielt und ihn kidnappte. 15 Tage hielt ihn die Mafia gefangen - bis die Familie mit den Erpressern handelseinig geworden war. 70.000 Dollar hatten sie von der Familie für die Freilassung von Hussein verlangt. Mit 50.000 Dollar waren sie schließlich zufrieden.

Die Zeit im Gewahrsam der Mafia, das wird im Gespräch sehr deutlich, hat Hussein nachhaltig traumatisiert. Man behandelte ihn, so erzählt er, auf äußerst demütigende und entwürdigende Weise. Hussein kann über manches, was ihm da widerfuhr, kaum sprechen, kann es nur andeuten. Immer wieder wurde er brutal geschlagen und malträtiert. Eine Hand brach man ihm, so verstehe ich. Mit einer Kalaschnikow stieß man ihn wiederholt mit solcher Wucht in den Rücken, dass er heute noch an den Folgen leidet.

Wieder in Freiheit, wieder zuhause bei der Familie, verließ er nicht mehr das Haus. Zu sehr war er besetzt von der Angst, dass sich die Mafia wieder seiner bemächtigen würde. Er konnte seiner Arbeit nicht mehr nachgehen, seine sozialen Kontakt nur eingeschränkt noch aufrecht erhalten. Er war ein gefangen in den eigenen vier Wänden.

Alles dies ereignete sich im Jahre 2012. Da beschloss er denn auch, den Irak zu verlassen, um ein neues, unbedrohtes, angstfreieres Leben beginnen zu können. Sein Ziel war die Türkei. Von Basra flog er über Istanbul nach Ankara, wo er erst einmal blieb - unterstützt von seiner Familie. Nur etliche Monate später aber - wir schreiben das Jahr 2013 - erkrankte seine Mutter schwer. So beschloss er, nach Hause zurückzukehren, um bei der Pflege und Betreuung der Mutter zu helfen. Wieder eine Zeit, in der er ein Gefangener im eigenen Hause war.

Als die Mutter nach gut vier Monaten starb, verließ Hussein den Irak endgültig. Diesmal war das Ziel von Anfang an Deutschland, weil ein guter Freund von ihm - er lebt heute in Stuttgart - bereits dorthin geflohen war. Die Reise war lang und sicherlich auch beschwerlich, aber anscheinend ziemlich undramatisch, jedenfalls frei irgendwelchen lebensbedrohlichen Situation. 3000 Dollar, so sagt er, musste die Familie für diese Reise aufbringen.

Von Basra flog er zunächst nach Erbil, eine Stadt im vom Kurden beherrschten Teil des Iraks. Von dort fuhr er mit dem Bus, die Grenze zur Türkei querend, über Ankara nach Izmir. Von Izmir setzte er mit einem Boot über nach Mythilene auf Lesbos, von wo es kurze Zeit später mit der Fähre weiter ging nach Athen. Von dort führte ihn der Weg quer durch Griechenland nach Makedonien. Die weiteren Stationen waren Serbien, Kroatien, Ungarn, Österreich und schließlich Deutschland. Mal mit dem Bus, mal mit der Bahn.

Registriert wurde Hussein, so habe ich ihn verstanden, an keiner Grenze, auch nicht an der deutschen. So bewegte er sich erst völlig frei in unserem Lande. Zunächst kam er nach Hannover, wo er erfuhr, dass die Flüchtlingslager überfüllt seien. So zog er weiter nach Hamburg. Von dort nach Stuttgart, wo er seinen Freund besuchte. Dieser riet ihm, es in Bremen zu versuchen. Auf der Fahrt stieg er in einen ICE, hatte aber nur ein Ticket für den Regionalverkehr. So wurde ein Kontrolleur auf ihn aufmerksam. Dieser übergab ihn in Bremen der Polizei, die ihn an die Ausländerbehörde weiterreichte. Hier nahm man ihm die Fingerabdrücke ab. Hier wurde er endlich registriert - und wieder weitergereicht: nach Bielefeld, dann Oer-Erkenschwick und schließlich nach Schermbeck. Hier kam er im Oktober 2015 an.

Ich treffe ihn im ehemaligen Ecco-Hotel, wo auch die mit der Flüchtlingsarbeit betraute Caritas ihr Quartier bezogen hat. Seinen Deutschkurs hat er bereits absolviert. Er hat auch - mit Erlaubnis der Ausländerbehörde - Arbeit gefunden. Auf einem Hof. Da ist er fürs Kühemelken zuständig. Damit kennt er sich aus. Hussein will nicht ausschließlich von der Großzügigkeit des deutschen Staates leben.

Hussein steckt noch mitten im Asylverfahren, erfahre ich. Er hat den Status der "Duldung". Ungeduldig hofft er auf seine Anerkennung. Die Ungewissheit empfindet er als sehr belastend. Er möchte eine Perspektive für sein Leben haben.

Ich erlebe meinen Gesprächspartner als sehr freundlich, zugewandt und offen - auch für den, der anders ist als er. Als ich ihn nach seinem religiösen Hintergrund befrage, antwortet er mir: "Ich bin Muslim, Schiit. Aber ich mag auch die Sunniten - und auch die Christen." Hussein will und kann es nicht verstehen, dass sich Menschen wegen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit streiten oder gar bekriegen.

Die Mitarbeiter der Caritas sind voll des Lobes für Hussein. Sie beschreiben ihn als ehrlich, hilfsbereit und engagiert. Er arbeitet mit beim "Café international" im Pfadfinderheim. Die ehrenamtlichen Helfer dort hat er eingeladen und bekocht. Stolz zeigt er mir ein Foto vom Lammgericht, das er für sie zubereitet hat. Gerade ist er dabei, der Caritas unter die Arme zu greifen: Er hilft beim Anstreichen des Empfangsraums im Ecco-Hotel. Auch sportlich ist Hussein unterwegs: Er spielt Fußball im Team SV Schermbeck III. Wäre der Wille, sich zu integrieren, das einzige Kriterium, für seine Anerkennung als Asylsuchender, könnte man ihm diese, so scheint mir, kaum verweigern.

(RP)
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