Wermelskirchen Vom Leben aus der Bahn geworfen

Wermelskirchen · Das Netzwerk Wohnungsnot hilft Menschen, deren Existenz auf der Kippe steht. Seit 20 Jahren ist die Tendenz steigend - immer mehr Menschen sind ohne festen Wohnsitz. Hier setzt das Netzwerk an und bietet soziale Anbindung an.

 Das Netzwerk Wohnungsnot der Kreis-Caritas hilft Menschen. Sie müssen aber den ersten Schritt tun

Das Netzwerk Wohnungsnot der Kreis-Caritas hilft Menschen. Sie müssen aber den ersten Schritt tun

Foto: DPA

Tom lebt nicht auf der Straße. Und trotzdem hat er kein Zuhause. Im Sommer schläft er in einem Zelt im Wald, im Winter kommt er manchmal bei Freunden oder Verwandten auf dem Sofa unter. Tom weiß, dass das nicht ewig funktionieren wird, denn er ist auch eine Belastung für seine Gastgeber. Er hängt herum, tickt manchmal aus, ist unordentlich, sein Tag ist nicht strukturiert, weil er keine feste Arbeit hat. Tagsüber trifft er sich mit seiner Clique, fast alle Leidensgenossen, im Park, trinkt Bier und palavert. Passanten fühlen sich manchmal belästigt.

Tom gibt es nicht. Aber er entspricht statistisch der Mehrzahl jener Klienten, mit denen Judith Becker und ihre Mitarbeiter vom Netzwerk Wohnungsnot zu tun haben. Die Leiterin der Fachberatung, die von der Caritas Rhein-Berg und der Diakonie betrieben wird, weiß um den Teufelskreis der Wohnungslosigkeit. "Du verlierst den Job, du wirst krank, deine Familie bricht auseinander, du kannst deinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, du wirst aus deiner Wohnung geworfen. Wenn du keinen festen Wohnsitz angeben kannst, bekommst du keinen Job - und so weiter", zählt Judith Becker auf. "Das ist der Klassiker."

Immer mehr Menschen trifft es, auch im Rheinisch-Bergischen Kreis. Seit 20 Jahren ist die Tendenz steigend. Gleichzeitig wird die Situation auf dem Wohnungsmarkt angespannter, sagt Becker. Eine wachsende Zahl von Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Langzeitarbeitslose, Altersarme und Flüchtlinge müssen untergebracht werden. "Da sind die Wohnungslosen ganz am Ende der Kette. Wir finden kaum noch Vermieter für sie. Wer einmal herausgeworfen oder sogar herausgeklagt worden ist, weil er die Miete nicht bezahlt oder die Wohnung verkommen ließ, hat ganz schlechte Karten", sagt Becker aus eigener Erfahrung.

Etwas mehr als 400 Betroffene vermutet Judith Becker in Bergisch Gladbach, wohin die meisten streben. "Allerdings ist die Dunkelziffer hoch, weil viele einfach untertauchen." Doch eine Stadt wie Bergisch Gladbach ist überschaubar, die Szenetreffs sind bekannt - und es gibt Hilfsangebote wie die des Netzwerks.

Genau 486 Rat- und Hilfesuchende nutzten 2015 die kreisweiten Angebote des Netzwerks Wohnungsnot. "Je früher die Leute zu uns kommen, desto besser", erklärt Judith Becker. "Manche brauchen uns oft nur eine kleine Zeit, wenn sie aus der Bahn geworfen worden sind." Manche kommen in Abständen immer wieder, andere sind Stammgäste, waren noch nie wirklich integriert. Seit mehr als 20 Jahren ist die Sozialarbeiterin mit Herzblut dabei, betreut mit großem Verständnis, Fingerspitzengefühl und der nötigen Härte ihre Schäfchen.

Viele kennt sie seit Jahren. Wenn sie draußen unterwegs ist und die Treffpunkte aufsucht, trifft sie "ihre Pappenheimer". "Unser Ziel ist ja die Begleitung, die Ausbalancierung und natürlich, die Menschen irgendwann in die Lage zu versetzen, selbst klarzukommen." Das geschieht in den Räumen der Geschäftsstelle. Dort bekommen die "Kunden" - so sie denn freiwillig kommen - eine Mahlzeit, können duschen und Gesprächspartner finden, wenn sie möchten. Vor allem aber: "Hier bekommen sie eine ordentliche Postadresse." Es ist nur eine Postadresse, aber die ist der Schlüssel zur bürgerlichen Existenz. Ob Bewerbung, Verträge oder Amtliches - "ohne eine feste Adresse bist du ein Niemand", erklärt Becker.

Die soziale Anbindung gibt einen Hauch von Nestwärme. Gespräche in einem geschützten Raum, das kennen viele gar nicht mehr. Aber auch die schweigende Anwesenheit von Leidensgenossen tut gut. Einfach am Tisch sitzen im Sauberen, Warmen, das gibt Geborgenheit. "Das kleine Glück", nennt es Becker.

Doch die schönste Erfahrung ist natürlich die geglückte Hilfe: "Gerade in der Anfangsphase, wenn jemand auf der Kippe steht, kurz davor ist, seine Wohnung zu verlieren, können wir das Ruder manchmal noch herumreißen. Etwa, indem wir das Gespräch mit dem Vermieter suchen." Es kommt vor, dass einer ihrer Schützlinge wieder Fuß fasst, eine Wohnung findet, einen Job oder einen Ausbildungsplatz, vielleicht sogar einen neuen Partner. "Manchmal treffe ich die Frau oder den Mann dann in der Stadt, nett anzusehen und offenbar stabil", sagt sie. "Das sind Erfolgsgeschichten, für die ich diese Arbeit mache."

(RP)
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