Wermelskirchen Als Kinder Opfer der Vertreibung

Wermelskirchen · Ursula und Wolfgang Thiele sind als Kinder vertrieben worden. Sie kennen die Angst und den Kampf ums Überleben. Sie wurden in Wermelskirchen gut aufgenommen. Was heute passiert, ist nicht zu vergleichen mit den Geschehnissen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Ehepaar ist verwurzelt in Wermelskirchen. Beide reisen regelmäßig in ihre alte Heimat.

 Ursula und Wolfgang Thiele sind 51 Jahre verheiratet. Nach ihrer Vertreibung haben sie sich in Wermelskirchen kennengelernt. Die beiden Reliefs zeigen das Kinderschicksal: Ursula als Kind mit der Mutter auf der Flucht, Wolfgang als Waise in den Ruinen von Königsberg.

Ursula und Wolfgang Thiele sind 51 Jahre verheiratet. Nach ihrer Vertreibung haben sie sich in Wermelskirchen kennengelernt. Die beiden Reliefs zeigen das Kinderschicksal: Ursula als Kind mit der Mutter auf der Flucht, Wolfgang als Waise in den Ruinen von Königsberg.

Foto: Jürgen Moll

Geboren wurde Ursula geborene Helemann, 1940 in Querbach (polnisch Przecznica) im Isergebirge im damaligen Schlesien und Wolfgang 1937 in Königsberg (russisch Kaliningrad) im damaligen Ostpreußen. Ursula lebt seit fast 70 Jahren in Wermelskirchen, Wolfgang seit 73 Jahren im Bergischen Land. In ihrem Flur hängt ein Relief aus Holz - es zeigt einen langen Treck vertriebener Menschen zu den Viehwaggons. An der Wand im Wohnzimmer fallen zwei Holzreliefs ins Auge: Ein Bild zeigt einen Jungen einsam inmitten Ruinen kauernd, auf dem anderen ist ein Mädchen mit seiner Mutter auf der Flucht zu sehen. Alle Werke fertigte Wolfgang an. Er und seine Frau wurden als Kinder aus ihren Geburtsorten vertrieben.

Über die Vertreibung

Meine eigentliche Vertreibung hat eine längere Vorgeschichte. Mein Vater hat mich das letzte Mal gesehen, als ich zehn Monate alt war. Er wurde vermisst. Es ging los im Mai 1945 mit: "Die Russen kommen." Die Erwachsenen redeten davon. Ich war fünf Jahre alt und wir Kinder waren beunruhigt. Vorher waren bereits Trecks aus dem Osten auf der Flucht vor russischen Soldaten in Querbach hängen geblieben. Nachts kamen immer wieder Russen und später auch Polen und plünderten die Häuser. Da habe ich natürlich Angst gehabt. Dann kam polnisches Militär und beschlagnahmte die Häuser. Wir mussten aus unserer Wohnung im oberen Stockwerk raus und sind nach unten gezogen. Von da an gehörte uns das Haus mit allem Mobiliar nicht mehr. Auch meine Spielsachen nicht. Oben zogen die Polen ein. Die polnischen Soldaten holten ihre Familien nach. Die Russen hatten diese umgesiedelt. Wir sind eigentlich zweimal vertrieben worden und wieder zurückgekehrt. Die endgültige Vertreibung aus Querbach begann am 12. Juli 1945. Meine Mutter hat mir damals auf dem Weg zum Sammelplatz gesagt: "Guck' Dir Deine Heimat noch mal an - wer weiß, ob Du sie wiedersiehst." Die erste Sammelstelle war nach rund 42 Kilometern - Löwenberg-Plagwitz. Es war eine Irrenanstalt. Sie war hoffnungslos mit 13.000 Menschen überfüllt, die Kanalisation war völlig verstopft. Ich habe diesen furchtbaren Gestank nicht vergessen. Dort wurden wir noch mal ausgeplündert, und dann ging es ab in Viehwaggons. Wir hatten Angst, nach Russland verschleppt zu werden. Letztendlich sind wir dann nach einer Woche über das Auffanglager in Wipperfürth in Wermelskirchen gelandet. Die Erlebnisse auf der Fahrt waren furchtbar.

Als die Russen kamen, waren wir noch im Hause. Trotz aller Warnungen wollte meine Mutter das Haus nicht verlassen. Mein Vater war vermisst. Als der erste russische Soldat in unserem Hauseingang stand und seine Maschinenpistole auf mich richtete, hatte ich Todesangst. Die haben uns aus dem Haus rausgetrieben vorbei an zerfetzten Leichen in Richtung Front. Wir gingen Irrwege mitten im Kugelhagel. Schließlich wurden wir zwei Tage ohne Nahrung in einen Erdbunker gesperrt. Von dort haben sie uns um das bereits 1944 von britischen Fliegern zerbombte und verbrannte Königsberg getrieben, um die Leute zu dezimieren. Wir sind schließlich mit vielen Familien in einem leer stehenden Haus untergekommen. Mutter bekam Hungertyphus und kam ins Seuchenlazarett. Ich durfte sie nicht besuchen. Das Letzte, was ich von ihr sah, war, wie sie mir kurz vor Weihnachten 1945 zuwinkte. Von da an war ich alleine. Es begann die dunkelste Zeit meines bisherigen Lebens. Meine Vertreibung geschah etwa zwei Jahre später in 1947. Ich habe davor größten Teils alleine als Waise auf der Straße gelebt. Kinder werden mit so etwas besser fertig als die meisten Erwachsenen. Es gab für mich nur eine Frage: "Wo bekomme ich als Nächstes etwas zum Essen her?" Egal: durch Bettelei, aus der Mülltonne, wie und wo auch immer. Ich habe ziemlich schnell etwas Russisch gelernt und habe Russen geholfen, um Essen zu bekommen. Ich bin mehrfach ins Waisenhaus gebracht worden und wieder ausgerissen. Bis ich dann festgehalten wurde. Wer von den Kindern floh, wurde sehr hart bestraft. Regelmäßig wurden dort morgens die toten Kinder aus dem Schlafsaal geschafft. Irgendwann im Herbst 1947 wurden wir in Viehwaggons gesperrt. Wir waren insgesamt Hunderte von Kindern, in jedem Waggon war nur eine Helferin. In den Waggons waren wir sieben Tage lang eingesperrt. Der Zug rollte, dann stand er, es wurde aufgemacht, die Toten rausgenommen und dann ging es weiter. Zu Essen gab es sehr wenig. Der Zug hielt endgültig in Bautzen in Sachsen. Vorn dort wurden die Kinder auf andere Orte verteilt. Ich kam nach Kleinwelka. Da kam dann der Suchdienst des Roten Kreuzes. Sie haben Fotos der Kinder im Kino als Vorspann gezeigt. So hat mich meine Tante Margot nach drei Monaten gefunden und dann abgeholt. Ich dachte, ein Wunder ist geschehen. Die Tante hatte mit großem Glück noch über die Ostsee bis Rostock fliehen können. Über Ängste

Sie Kinder finden sich schneller mit neuen Gegebenheiten ab. Aber die größte Angst war immer die Angst, nicht zu überleben.

Ich habe damals in Königsberg urplötzlich als Kind von einem Tag auf den anderen - und von da an jeden Tag - um mein Überleben gekämpft. Als meine Mutter kurz vor Weihnachten 1945 starb, war ich acht Jahre alt. Davor war meine größte Angst gewesen, meine Mutter zu verlieren. Besonders, als wir gezwungen wurden, um das zerstörte Königsberg herumzumarschieren. Da sind viele aus Verzweiflung in den Fluss Pregel gesprungen. Meine Mutter wollte das auch tun. Ich habe sie gefragt: "Aber Mutti, was wird dann aus mir?" Deswegen ist sie nicht gesprungen. Man hat versucht, Kinder aus diesem Treck herauszugreifen. Ein paar Frauen um mich herum haben mich mit Kleidern versteckt. Da hatte ich Todesangst.

Über Prägungen

Das ganze Leben prägt - und Kindheitserlebnisse besonders. Wenn ich zum Beispiel Schienen sehe, die auf Schotter liegen, muss ich immer daran denken, wenn während des Abtransportes der Zug auf offener Strecke hielt und ich mit nackten Knien den Schotter herunterrutschte, um meine Notdurft zu verrichten. Der Schotter tat weh.

Bis heute kommen die damaligen Geschehnisse in meinen künstlerischen Werken vor. Sie prägen meine ganze Einstellung. Der beißende Geruch von Kot und Urin geht mir nicht mehr aus der Nase, wenn ich daran denke, in verstopften Kasernentoiletten eingesperrt gewesen zu sein. Wir mussten im Waisenhaus auch Schweine versorgen. Als die dann geschlachtet wurden, haben viele das fette Fleisch nicht vertragen. Ich kann bis heute keinen Speck leiden. Und Rote Beete auch nicht. Aber das ist natürlich nicht so schlimm. Die Vergewaltigung meiner Mutter miterleben zu müssen und die Todesangst prägten mich viel schlimmer. Die Höllen, durch die ich gegangen bin, prägen mein Leben bis zum heutigen Tage. Sehr oft habe ich diese Erlebnisse vor Augen, wenn ich menschliches Verhalten beurteilen soll und Entscheidungen treffen muss. Die erlebten Wunder und die Höllenmärsche sind mir immer Entscheidungshilfen - auch zwischen Wichtigem und Unwichtigem.

Wer erfahren hat, wie das ist, nach Brot und Essen in Mülltonnen suchen zu müssen, der kann kein Brot und andere Essenreste wegschmeißen. Das geht nicht. Wir wissen, was Not ist. Und wir wissen auch, dass man überleben kann.

Über erlebte Vorurteile

Wir sind in Wermelskirchen gut aufgenommen worden. Wir hatten Glück. Das Zusammenleben mit den Einheimischen entwickelte sich gut. Gegenseitiges Misstrauen wurde zunehmend abgebaut. Aber um uns herum - meine Verwandten sind zum Beispiel in Leverkusen in Baracken gelandet - hatten viele mit großen Vorurteilen zu kämpfen. Es gab natürlich Spannungen, wenn Einheimische in ihren Wohnungen Raum für Flüchtlinge und Vertriebene bereitstellen mussten.

Ich habe von Vorurteilen nichts bemerkt. Die Hauptsache für mich war, dass wir genug zu Essen hatten.

Über Flüchtlinge heute

Heute ist es anders als nach dem Zweiten Weltkrieg. Sprache und Religion sind fremd. Ich glaube, wir haben es mit einer neuen Völkerwanderung zu tun, vielleicht in historischen Dimensionen. Und das kann man nicht aufhalten.

Wir schaffen das. Die Flüchtlinge kommen doch nicht freiwillig. Den Leuten im Schlauchboot und denjenigen, die sich über die Pässe quälen, sitzt die Angst im Nacken. Nach 1945 hat Deutschland auch alle Flüchtlinge verkraftet. Und am Anfang mussten viele zusammenrücken. Natürlich: Diese Vertriebenen und Flüchtlinge waren eben auch Deutsche und die Religion war dieselbe.

Über Heimat

Querbach ist meine Geburtsheimat. Ich war 1971 zum ersten Mal wieder dort. Seit 1991 fahren wir jedes Jahr gerne dorthin. Dort sind meine Wurzeln. Aber: Ich bin als Kind in Wermelskirchen angekommen, wurde hier eingeschult und bin hier gut herangewachsen. Mein Mann und ich haben uns unsere Lebensgrundlage hier geschaffen. (Ursula Thiele war Lehrerin, Wolfgang Thiele Sonderschullehrer). Unser Zuhause ist hier; unsere Geburtsheimat haben wir verloren.

Ich habe meinen Geburtsort Königsberg ab 1992 mehrmals wieder besucht. Mein Heimathaus existiert nicht mehr. Aber Erinnerungen bleiben wach. Das sind Ur-Erlebnisse. Aber zurück, um dort zu leben, möchte ich nicht mehr. Wir haben aber dort neue Bekannte und Freunde gefunden.

Über das Leben

Man kommt raus aus den Verhältnissen, wenn man etwas tut.

Meiner Großtante gehörte die "Lindenbaude" (Berggasthof) in Querbach. Wären der Krieg und die Vertreibung nicht gekommen, wäre ich vielleicht die heutige Lindenbaudenwirtin. Wir kennen auch die polnische Familie sehr gut, die heute in dem Haus in Querbach lebt, in dem ich geboren wurde. Wir sind gute Freunde geworden.

(bege)
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