Kreis Viersen Vermisst in den Weiten Russlands

Kreis Viersen · Zahlreiche Männer aus dem Gebiet des heutigen Kreises Viersen nahmen an Napoleons Russland-Feldzug teil. Sie stammten aus dem seit 1801 völkerrechtlich zu Frankreich gehörenden linksrheinischen Roerdepartement mit dem Arrondissement Krefeld. Die meisten kehrten nicht zurück.

 Prof. Dr. Leo Peters.

Prof. Dr. Leo Peters.

Foto: FINGER

Wie rund 130 Jahre später für Adolf Hitler so besiegelte auch für Napoleon Bonaparte der Feldzug gegen Russland den militärischen Anfang vom Ende. An der Weichsel bei Warschau hatte der französische Kaiser ein gewaltiges Heer, die "Grande Armée", zusammen gezogen, die im Juni 1812 die Memel überschritt und, ihre Kräfte vollkommen überschätzend, den Krieg in das Riesenreich trug. "Die Gesamtstärke der gegen Russland aufgestellten Truppen wird mit 684 808 Mann, 191 311 Pferden, 1302 Feld- und 130 Belagerungsgeschützen berechnet, wovon etwa 75 000 Mann in Preußen und Polen zurückgehalten wurden. Nicht eingeschlossen sind die etwa 25 000 Mann Beamte, Diener, Handwerker, sowie der große Troß von Marketendern, darunter Frauen mit ihren Kindern" (Franz Overkott). Der desaströse Verlauf des Feldzuges ist bekannt und muss hier nicht nachgezeichnet werden. Die Weite des Raumes, der Brand von Moskau, unüberwindliche Versorgungsprobleme, der unerbittliche Winter wurden der stolzen, aus etlichen europäischen Ländern zusammengestellten Armee zum Verhängnis. Kaum ein Fünftel der gesamten Russlandarmee sah die Heimat wieder.

Zu dieser Kriegsmacht zählten auch viele Männer aus dem seit 1801 völkerrechtlich zu Frankreich gehörenden linksrheinischen Roerdepartement mit dem Arrondissement Krefeld, das wiederum den größten Teil des heutigen Kreises Viersen abdeckte. Über deren Einstellung zu Napoleons Eroberungspolitik sind wir im einzelnen natürlich nicht unterrichtet. Viele werden sich an der Größe der napoleonischen Kriegsmacht begeistert und für den damals mächtigsten Mann Europas schon auf anderen Schlachtfeldern gekämpft haben. Andererseits gehörte die jahrelange Praxis der Rekrutierung wehrfähiger Männer hierzulande zu den am meisten gefürchteten Aspekten französischer Herrschaft. Dass wohlhabende Bürger ihren Sohn vom Kriegsdienst mit Geld freikaufen konnten, indem sie für ihn einen remplacant (Vertreter) stellten, gab dem Ganzen auch noch eine Note, die zu dem offiziell hochgehaltenen revolutionären Gleichheitsprinzip nicht passen wollte.

Auf Grund aufwendiger amtlicher Recherchen, die 1818 von dem hannoverschen Leutnant Heinrich Meyer in preußischem Auftrag durchgeführt wurden, war es möglich, die Namen und den Verbleib von mehr als 3326 Soldaten aus Westfalen und dem Rheinland zu ermitteln. 38 der in Russland Vermissten kamen danach aus dem Gebiet des heutigen Kreises Viersen: je einer aus Grefrath, Hinsbeck, Leuth, Schiefbahn und Viersen, je zwei aus Brüggen, Toenisberg und Vorst, je drei aus Amern, Bracht und Breyell, je vier aus Lobberich, Neersen und St. Hubert, und sechs aus Dülken. Durchweg sind auch die Orte, wo sie vermisst wurden, bekannt, bei einigen mit exaktem Tagesdatum.

Man wird vermuten müssen, dass dies in den meisten Fällen auch die Orte und Zeitpunkte ihres Todes waren. Von einer Reihe von ihnen weiß man, zu welchen Truppenverbänden sie zählten. Von elf dieser Soldaten ist anzunehmen, dass sie noch 1812 starben, mindestens 17 weitere erlebten das Jahr 1813 (jedenfalls ist dies das Datum ihres letztbekannten Verbleibs). Das späteste bekannte (Todes)datum betrifft Johann Wilhelm Ginnen aus St. Hubert, das mit Dezember 1813 in Minsk angegeben wird. Mathias Hintzen aus Lobberich kam wohl in Moskau um (kein Todesdatum bekannt), Johann Holthausen aus Hinsbeck 1813 in Smolensk, der Artillerist Peter Siemes aus Dülken 1812 in Bobrow. Es gab auch Soldaten, die in den russischen Untertanenverband eintraten oder sich vor allem im Wolgagebiet ansiedelten. Zu diesen gehörte Heinrich Heyer aus Schiefbahn.

Die Franzosenzeit hat auch am Niederrhein generationenlang das kollektive Gedächtnis geprägt, wobei der todbringende Russlandfeldzug Erinnerung und Phantasie besonders angeregt hat. Noch im 20. Jahrhundert waren Kinderlieder und Zählreime am Niederrhein zu hören, die an die Russland-Katastrophe des Korsen erinnerten. Prof. Helena Siemes hat 2007 Beispiele zusammengetragen, so auch diesen noch 1938 in Geldern geläufigen Abzählreim:

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Wo sind die Franzosen geblieben? In Moskau in dem tiefen Schnee, Da rufen sie alle: O weh, O weh! Wer hilft uns aus dem tiefen Schnee!

Und 100 Jahre nach der Katastrophe des Russlandabenteuers von 1812/13 sang man in Deutschland mit vaterländischer Inbrunst in Anlehnung an das Alte Testament auf das geschlagene Franzosenheer:

Mit Mann und Ross und Wagen

So hat sie Gott geschlagen

Napoleons Feldzug wurde als Frevel gegen Gott verstanden und man ahnte nicht, dass ein neuer, größerer Frevel nur einige Jahrzehnte später folgen sollte.

Literaturhinweis Franz Overkott, In Russland vermisste aus Rheinland und Westfalen. Neustadt/Aisch 1963

(prof)
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