Viersen Nachbarschaftshilfe über den Tod hinaus

Viersen · In den Viersener Sektionen kündeten früher Totenbretter neben der Haustür davon, dass ein Mensch verstorben war. Das war eine der vielen Aufgaben, die Nachbarn bei einem Todesfall übernehmen mussten

Auf dem schwarzen Brett steht die Warnung in weißen Lettern: "Hodie mihi, cras tibi." Die lateinische Inschrift macht den Vorübergehenden aufmerksam: "Heute mir, morgen dir". Heute sterbe ich, morgen stirbst du. Das Brett wird in der stadtgeschichtlichen Sammlung aufbewahrt. Drei Totenbretter aus den Sektionen Bockert, Hamm und Rahser sind erhalten. Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert. Bemalt mit Schädeln und gekreuzten Knochen oder Sprüchen wie "Memento mori" ("Bedenke, dass du sterblich bist") wurden sie früher links neben die Haustür gestellt, wenn ein Mensch gestorben war. Dort blieben sie, bis die Leiche am Morgen des Begräbnistages mit den Füßen voran aus dem Haus getragen wurde. Dann brachte man das Totenbrett auf den Speicher des Sterbehauses und holte es erst wieder hervor, wenn in der Nachbarschaft der Nächste starb.

Noch im 19. Jahrhundert waren die Toten für die Lebenden Teil des Alltags. Wer zur Kirche ging, schritt an Gräbern vorbei. Denn über Jahrhunderte hinweg wurden die Toten zunächst in den Kirchen, später rund um die Kirchen bestattet. Das war in Viersen ebenso: Rund um die Kirche St. Remigius war der Kirchhof auch der Friedhof.

Doch diese Praxis führte zu einigen Problemen. Die Kirchhöfe wurden zu klein, Gräber wurden mehrfach belegt. Die Viersener Verwaltung berichtet 1858 von Klagen - bei Hitze verbreite sich vom Kirchhof "über die anschließenden Straßen ein starker unverträglicher und der Gesundheit unbedingt sehr nachteiliger Geruch". Hygienische Bedenken hatten schon in französischer Zeit dazu geführt, dass man die Friedhöfe in vielen Orten auf Flächen außerhalb der Stadtmauern verlegte. 1866 wurde in Viersen der Friedhof an der Löh angelegt. Mittendrin im Leben waren die Toten damit nicht mehr.

Die Aufgaben, die heute ein Bestatter übernimmt, kamen früher den Angehörigen und Nachbarn zu. Die Viersener Mundartdichterin Agnes Neef-Winz berichtet, dass die Nachbarn in Viersen die Leiche wuschen, kämmten und ihr ein Totenhemd angezogen - "das war Nachbarpflicht und Selbstverständlichkeit". Nachbarn bahrten den Verstorbenen im Trauerhaus auf, schlossen die Fensterläden, stellten eine Kerze, ein Kruzifix und ein Glas Weihwasser mit einem Palmzweig darin auf.

Drei Tage lag der Tote "op de Schoof", auf dem Totenbett. Angehörige und Nachbarn hielten bis zum Begräbnistag die Totenwache. Der Historiker und Theologe Peter Norrenberg (1847-1894), der in Viersen und Süchteln wirkte, beschreibt in seinem Buch "Aus dem alten Viersen" 1873, dass es dabei mitunter nicht ganz so andächtig zuging - wohl auch deshalb, weil sich "junge Leute beiderlei Geschlechts" die Totenwache teilten. Norrenberg: "Die schöne Sitte, den Verstorbenen bis zu seiner Beerdigung nicht zu verlassen, welche der Liebe der nächsten Angehörigen entsprungen war, konnte eben auch nur so lange in ihrer Reinheit erhalten werden, als diese selbst sie übten; sobald sie gewohnheitsmäßig Fremden übertragen wurde, mußten Mißbräuche nothwendig einreißen."

Nachbarn waren es auch, die die Totenglocke läuteten und sich die Gebühr für das Grab teilten. Nachbarn trugen den Sarg zum Leichenwagen und ließen ihn auch ins Grab hinab. Nach der Beisetzung trafen sich Verwandte und Nachbarn zum Beerdigungskaffee in einer Wirtschaft. Das ist heute vielerorts noch üblich.

Beim Opfergang in der Kirche oder am Grab wurden Totenzettel ausgegeben. Die gibt es vielerorts auch heute noch. Doch bis in die 1960er-Jahre hinein hatten diese Zettel besondere Funktionen. Sie dienten dem "Totenlob", heute dienen sie überwiegend der Erinnerung. Den Wandel beschrieben Axel Greuvers vom städtischen Kulturamt und Stadtarchivar Marcus Ewers in einem Katalog zur Ausstellung "Totenbräuche im Wandel der Zeit", die 1999 im Viersener Stadtarchiv zu sehen war.

Die Totenzettel vergangener Zeiten enthielten weit mehr Informationen über das Leben des Verstorbenen als heutige Exemplare, erläuterten, inwiefern der Verstorbene ein christliches Leben geführt hatte, zählten seine Tugenden auf, und forderten zum Gebet für den Verstorbenen auf. Aus den Niederlanden sind die ersten Totenzettel Anfang des 18. Jahrhunderts belegt. Die Nähe zu den Niederlanden führte wohl dazu, dass die ersten Totenzettel im deutschsprachigen Raum am Niederrhein aufkamen. Der älteste Totenzettel aus Viersen stammt aus dem Jahr 1791, er gehört damit zu den ältesten nachweisbaren Totenzetteln am Niederrhein.

Was sich nicht geändert hat, ist der Gang zum Friedhof am Allerheiligentag. Angehörige richten an den Tagen zuvor die Gräber der Verstorbenen her. Nach dem Kirchgang ziehen die Gläubigen in einer Prozession zum Friedhof, wo jeder zum Grab seiner Angehörigen geht. In seiner "Geschichte der Herrlichkeit Grefrath" 1875, berichtet Peter Norrenberg, wie die Feiertage Allerheiligen und Allerseelen auch in Viersen begangen wurden: "An dem Nachmittage vor Allerheiligen ist der Kirchhof belebt von Jung und Alt, die mit kleinen Schaufeln herbeieilen, die Gräber der Ihrigen zu schmücken". Und weiter heißt es: "Bei Anbruch der Dunkelheit, während und nach der ersten Vesper des Allerseelentages wird der Zudrang noch ein größerer. Die Jugend eilt mit Kerzen herbei und bald brennen auf den geschmückten Gräbern die kleinen Lichtlein. Es flimmert und schimmert durch das Dunkel der Nacht". RP-FOTO: BUSCH

(RP)
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