Kreis Viersen Liebe zwischen Ulm und Stalingrad

Kreis Viersen · Der Briefwechsel zwischen Sophie Scholl und ihrem Verlobten Fritz Hartnagel ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis. Die Zuhörer im Ratssaal von Schloss Neersen verfolgten die Lesung von Sarah Elena Timpe und Samuel Koch gebannt

 Das Schauspielerpaar Sarah Elena Timpe und Samuel Koch - durch seinen Unfall 2010 bei "Wetten dass" in die Schlagzeilen geraten - lasen den Briefwechsel von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel, der erst 2003 veröffentlicht wurde.

Das Schauspielerpaar Sarah Elena Timpe und Samuel Koch - durch seinen Unfall 2010 bei "Wetten dass" in die Schlagzeilen geraten - lasen den Briefwechsel von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel, der erst 2003 veröffentlicht wurde.

Foto: W. KAISER

Eine weiße Holzbank auf dem Podium, das Publikum sieht auf der linken Seite Sarah Elena Timpe, auf der rechten Samuel Koch, eine dezente Beleuchtung, aus den Lautsprechern ein Mozart-Menuett - mit diesem Eingangs-Szenario empfangen Timpe und Koch die Zuhörer der Lesung "Damit wir uns nicht verlieren..." Nichts lenkt ab von dem, was in den nächsten 60 Minuten das Wichtige ist: die Worte im Briefwechsel zwischen Sophie Scholl, der Widerstandskämpferin gegen die Nazis in der "Weißen Rose", und Fritz Hartnagel, ihrem Verlobten, Soldat der Wehrmacht.

Zu Beginn der Lesung und des Briefwechsels schreibt eine 17-Jährige aus der "faden Schulstunde" in Ulm an den 21-Jährigen, man spürt wie ein verliebter "Backfisch" (um den heute veralteten Ausdruck für ein Mädchen im Teenager-Alter zu gebrauchen) auf die Antwort wartet. Dieser wiederum antwortet als einer, der sagt, "ich bin wieder restlos begeistert von meinem Soldatenberuf" und in den nächsten Tagen 150 neue Rekruten erwartet. Die Lesenden nehmen die Zuhörer mit, und diese können aus den Auszügen erahnen, wie sich die beiden jungen Menschen in ihrer Umwelt und in ihrer Beziehung entwickeln. Sophie Scholl berichtet von ihrem Wunsch, Erzieherin zu werden - was Fritz Hartnagel hinterfragt, denn es sei ein neuer Berufswunsch, sie habe doch studieren wollen?

Es geht auch um die Beziehung der beiden - Fritz Hartnagel schreibt, er wolle "nicht fordern, sondern beschenken" und glaubt, dass sich die beiden einander mehr öffnen sollten, "wir verschließen uns zu sehr." Sophie Scholl wiederum schreibt, "ich komme mir vor wie die Nehmenden", aber auch, dass sie sich nicht aufgeben dürfe für den Anderen.

Es folgt Feldpost aus dem Schwarzwald, Hartnagel berichtet "wir warten stündlich, dass es hier zu knallen beginnt". Sophie Scholl hingegen findet es "gemein, nicht Deinen Ort zu kennen" und hofft, "wenn es Dir nur immer gut geht."

Die Lesenden agieren kaum schauspielerisch, aber die Worte und die Veränderung im Ausdruck wirken so noch mehr. Bei Sarah Elena Timpe können die Zuhörer aus der Sprache und Sprechweise die Entwicklung Sophie Scholls vom Schulmädchen zur Erwachsenen verfolgen. Kochs Stimme zeigt weniger, aber umso eindringlichere Emotionen. Die einzige wirkliche Bewegung auf dem Podium geschieht etwa nach 30 Minuten, als Timpe die trennende Fläche zu Koch überbrückt und sich unmittelbar nah neben ihn setzt. Am Ende der Lesung dann der Brief der Familie Scholl an Hartnagel, der aus Stalingrad ausgeflogen in Lemberg im Lazarett liegt: Er erfährt, dass seine Verlobte und ihr Bruder am 22. Februar 1943 hingerichtet wurden - und die Wünsche der Familie, dass er gesund aus dem Krieg zurückkehrt. Im Ratssaal war während der Lesung kein Laut zu hören, das bekannte Schicksal Samuel Kochs war überhaupt kein Aspekt des Abends. Danach dankten die Zuhörer mit langem Applaus und Timpe und Koch beantworteten Fragen.

Das Projekt der beiden ist Teil des Rahmenprogramms der Schlossfestspiele - sie haben es selbst entwickelt. Die Neersener Aufführung ist erst die dritte überhaupt - und beide waren glücklich über die Reaktion der Zuhörer: "Es war eine schöne Stimmung und Atmosphäre, die Leute waren sehr konzentriert dabei", so Timpe. Koch ergänzte, dass es nie langweilig werde, den Briefwechsel zu lesen: "Es geht um Liebe, Triebe, Glaube, Rassendiskriminierung und unsere Geschichte - das kann kein Roman leisten."

Intendant Jan Bodinus hatte die Lesung verfolgt und war begeistert: "Ich finde es beeindruckend, wie die das gemacht haben - mit dieser Ruhe, Gelassenheit und Liebe."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort