Viersen Leyli will den Menschen helfen

Viersen · Die Iranerin Leyli Tarmshir war zunächst in Kempen untergebracht. Jetzt wohnt sie in Viersen, besucht dort ein Gymnasium, lernt Deutsch. Im Süchtelner Irmgardis-Krankenhaus absolviert sie ein Praktikum

 Die Iranerin Leyli im Praktikums-Einsatz: Freundlich plaudernd fährt sie den Patienten Heinz-Dieter Obschruf zum Röntgen.

Die Iranerin Leyli im Praktikums-Einsatz: Freundlich plaudernd fährt sie den Patienten Heinz-Dieter Obschruf zum Röntgen.

Foto: franz-heinrich busch

"Bringen Sie mich zur Röntgenabteilung?", fragt Heinz-Dieter Obschruf. Und die junge Frau antwortet: "Ja, gern." Dann fasst sie den Rollstuhl, in dem der Patient sitzt, an den Griffen und schiebt behutsam los. "Sie macht ihren Job sehr gut", sagt Obschruf nachher. "Sie ist hilfsbereit, gründlich und immer freundlich. Das tut gut."

Die junge Frau heißt Leyli Tarmshir. Sie ist 19 Jahre alt und wurde im Iran geboren - in Bandar Abass, einer Hafenstadt am Persischen Golf. Heinz-Dieter Obschruf (67) ist gerade zur Untersuchung im Süchtelner Irmgardis-Krankenhaus. Er ist einer von 31 Patienten, mit denen Leyli hier auf der Inneren Abteilung arbeitet. Um für ihre Berufswahl Einblicke in den Pflegedienst zu bekommen, absolviert sie im Krankenhaus ein dreiwöchiges Praktikum.

Das besteht nicht nur aus Rollstuhlschieben. Die junge Iranerin verrichtet alle Arbeiten, die in einem Praktikum üblich sind: Sie hilft bei der Zubereitung und Austeilung der Mahlzeiten; sie putzt und wechselt die Bettwäsche; sie kümmert sich um die Wäsche, wäscht auch die Patienten, hilft ihnen beim Duschen. Als sie mit Heinz-Dieter Obschruf vom Röntgen zurückkommt, hilft sie beim Ausfüllen der Essenskarten, kontrolliert sie auf Vollständigkeit. Sie möchte Menschen beistehen, vor allem älteren. Später vielleicht als Krankenschwester oder als Ärztin.

Es ist ein weiter Weg, den Leyli Tarmshir bis zu diesem Praktikum im Süchtelner Irmgardis-Krankenhaus zurückgelegt hat. Noch vor einem Jahr schien in ihrer iranischen Heimat die Welt in Ordnung: Leylis Vater Ali war ein erfolgreicher Immobilien- und Baustoffhändler, ihre Mutter leitete eine Englischschule für Mädchen. Leyli selbst erwarb im Juni 2015 an der High School in Bandar Abbas die Hochschulreife. Bis - auf einmal der Vater mit fünf anderen Männern in eine schmutzige Gefängniszelle geworfen wird.

Grund für die Verhaftung: Ali Tarmshir hat gewagt, auf der Hochzeit eines Freundes mit anderen Gästen zu tanzen. Große Teile der iranischen Bevölkerung und vor allem die Basijs, die Moralwächter, verbinden Tanzen mit Prostitution, Nacktheit und Vulgarität, sehen darin einen Verstoß gegen die öffentliche Sittsamkeit. Der Baustoffhändler wird vom Gericht zu 80 Peitschenhieben verurteilt, und er beginnt an seinem Staat, an seiner islamischen Konfession, in deren Namen so etwas geschieht, zu zweifeln.

Für den tief religiösen Mann ist Gott die Liebe, und er gestatte den Menschen harmlose Freuden des Lebens. Durch grausame Strafen, meint Ali, könne die Liebe zu ihm nicht erzwungen werden. Das ist der Ausgangspunkt zu grundlegenden Gesprächen mit seiner Familie, seinen Freunden: "Kann man weiter leben in einem solchen Glauben, in einem solchen Land?"

In seiner Verzweiflung knüpft Ali Tarmshir Kontakte zu Menschen mit ähnlichen Problemen, darunter iranischen Protestanten. Aber sie sind schon als Christen im Iran geboren und erleiden "nur" tägliche Diskriminierungen. Wer hingegen vom muslimischen Glauben zu einer anderen Konfession übertritt, dem droht im Iran lebenslange Haft, in einzelnen Fällen auch die Todesstrafe. Denn die Konversion gilt dort als eine Art Hochverrat an der gottgewollten Gemeinschaft. Alis Sinneswandel bleibt den Behörden nicht verborgen.

An einem Wochenende dringt die Polizei in sein Haus ein, nimmt seinen Computer mit und einige Bücher. Aus dem beschlagnahmten Material geht seine Beschäftigung mit dem christlichen Glauben hervor. Zum Glück ist der Baustoffhändler gerade mit einem Freund beim Angeln. Bekannte informieren ihn per Handy, er alarmiert seine Frau. Die Familie organisiert ihre Flucht, die sie in die Türkei führt. Von dort setzen sie in einer stürmischen Nacht zur Insel Lesbos über, schlagen sich dann zu Fuß über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn nach Österreich durch. Über die grüne Grenze gelangen sie nach Bayern, werden in Breitenberg im Landkreis Passau registriert.

Am 13. September 2015 treffen Ali und seine Frau Afshan mit ihren drei Kindern, der 19-jährigen Leyli, dem 16-jährigen Mohammad und dem sechsjährigen Yousha, in Kempen ein. Dort haben die Helfer vom Roten Kreuz, vom Technischen Hilfswerk und von der Feuerwehr, die Mitarbeiter von Stadt- und Kreisverwaltung fast bis zum Umfallen gearbeitet, um die 1244 Quadratmeter große Turnhalle des Berufskollegs, Kleinbahnstraße 61, als Notunterkunft herzurichten. Vier Quadratmeter stehen jedem Flüchtling zu, eine Privatsphäre gibt es nicht.

Am 18. Dezember vergangenen Jahres wird unsere iranische Familie nach Boisheim gebracht, dann nach Lobberich, schließlich nach Viersen. Hier leben die fünf in einer Zweizimmerwohnung in Sitzstadt. Während die Eltern seit vier Wochen Integrationskurse besuchen, gehen die Kinder zur Schule: Leyli und Mohammad besuchen das Viersener Clara-Schumann-Gymnasium, Yousha die Grundschule in Viersen. In ihrem Gymnasium erhält Leyli wöchentlich zwei Förderstunden Deutsch; aber das genügt ihr nicht, und mit Apps auf ihrem Smartphone lernt sie zusätzlich.

Leyli steckt voller Schaffensdrang, und das einzige, was ihr im Krankenhaus nicht gefällt, ist, dass man bei der Arbeit auch mal eine Pause machen muss, um zu warten, bis der Patient so weit ist. ",Du musst Geduld haben und immer ruhig bleiben.' haben mir die Schwestern gesagt." Nach kurzem Überlegen setzt sie hinzu: "Das Pflegepersonal hier macht eine schwere Arbeit. Da hab ich viel gelernt. Die haben mir beigebracht, ein Lächeln zu zeigen, auch wenn es manchmal schwer fällt. ,Die Patienten haben ein Anrecht auf deine Freundlichkeit?' haben sie gesagt."

Wie geht es weiter?

Wenn die junge Iranerin ihr Praktikum beendet hat, wird sie die zehnte Klasse des Gymnasiums besuchen und versuchen, das Abitur zu machen. Ihre iranische Hochschulreife gilt in Deutschland nicht. "Welchen Berufsweg ich dann einschlage, muss ich mir noch überlegen." Eins steht fest: Sie will in Deutschland bleiben und den Menschen hier helfen. Ihr sei ja auch geholfen worden.

(RP)
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