Dr. Paul Schrömbges Integration: Folklore-Ebene reicht da nicht

Viersen · Für die wachsende Zahl an Asylbewerbern braucht die Stadt Wohnraum, Schul- und Kindergartenplätze. Der Erste Beigeordnete über bürokratische Hürden und eine verlogene Diskussion, bei der sich die Kommunen allein gelassen fühlen.

Dr. Paul Schrömbges: Integration: Folklore-Ebene reicht da nicht
Foto: Busch, Franz-Heinrich sen. (bsen)

Viersen. Bis Ende des Jahres wird die Stadt rund 1.100 Asylbewerber haben. Rund 400 Menschen sind in Wohnungen, 700 werden in Sammelunterkünften untergebracht sein. Die Stadt rechnet mit einer Fortsetzung der Zuweisungen in dieser Größenordnung auch im kommenden Jahr. Mit rund 150 Personen ist die Stadt laut Bezirksregierung Arnsberg aktuell im "Belegungsrückstand". Die Stadt rechnet mit wöchentlichen Zuweisungen von rund 50 Asylbewerbern. Das sind die nüchternen Zahlen. Dahinter stehen die Schicksale der Flüchtlinge, und dahinter steht auch die Verwaltung, die an ihre Grenzen stößt. Der Erste Beigeordnete von Viersen Dr. Paul Schrömbges sprach mit unserer Zeitung über die Herausforderungen der Integration, bürokratische Hürden und eine nicht offen geführte Diskussion.

Die Stadt geht davon aus, dass sie bis Ende des Jahres weitere 300 Asylbewerber unterbringen soll. Schaffen Sie das?

Paul Schrömbges Ja. Die Übergangswohnheime in Boisheim und an der Johannesstraße in Süchteln sind bezugsfertig, ebenso zwei Unterkünfte in Viersen. Ein rechnerisches Unterbringungsdefizit in Höhe von 150 Personen bis Ende Dezember wird bleiben. Von einer Belegung von Turnhallen können wir in diesem Jahr aber absehen.

Was macht die Arbeit so schwierig?

Schrömbges Es gibt keine Planungsgrundlagen, die Zuweisungen erfolgen kurzfristig. Wir gehen davon aus, dass die Zuweisungen auch 2016 so weitergehen. Bis Ende Juni rechnen wir mit 1.900 Asylbewerbern in Viersen, für die wir Unterkünfte bereit stellen können. Zusätzlich werden dann 600 Flüchtlinge im Kaiser's-Hochhaus als Erstaufnahmeeinrichtung des Landes untergebracht sein. Die Stadtverwaltung stößt inzwischen an ihre Grenzen - auch, was die körperliche Belastung angeht. Hinzu kommen eine finanzielle Situation, die sich anhaltend zu Lasten der Kommunen verschiebt, und offene Fragen auf vielen weiteren Gebieten.

Welche offenen Fragen?

Schrömbges Beispiel Kindergarten: Die zugewiesenen Asylbewerber haben einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Der Ausbau der U-3-Betreuung ist noch nicht abgeschlossen. Wo haben wir Platz für die Flüchtlingskinder? Wo bekommen wir gegebenenfalls zusätzliche Erzieherinnen aus einem leer gefegten Arbeitsmarkt her? Wir sind mit den Kindergartenträgern im Gespräch, dieses Problem gemeinsam zu lösen. Das geht aber nicht mal eben. Beispiel Schule: Die Inklusion ist noch lange nicht angemessen umgesetzt. Als zusätzliche Herausforderung kommen jetzt Flüchtlingskinder hinzu, die Deutsch lernen müssen, die vielleicht traumatisiert sind, die Stärken und Schwächen wie unsere Kinder haben. Wie ist das schulorganisatorisch zu leisten? Die Gespräche mit der Schulaufsicht und den Schulen sind im Gange. Auch hier gilt: Belastbare Lösungen sind nicht rasch zu erwarten. Beispiel Wohnen: Man muss mit einer beträchtlichen Zahl von Asylbewerbern rechnen, deren Antrag stattgegeben wird und die längerfristig in Viersen bleiben werden. Für sie muss zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden. Dazu sind erste Gespräche in der Verwaltung angelaufen mit hoffentlich konkreten Lösungen schon im kommenden Jahr. Beispiel Finanzen: Die Kommunen treten anhaltend in Vorleistung, in Millionenhöhe. Die Kosten werden in Berlin und Düsseldorf kleingeredet. Bund und Land dürfen nicht mit allerlei Tricks die Finanzierungsverantwortung den Kommunen in die Schuhe schieben. Das kann auch unsere Stadt nicht dauerhaft stemmen.

Gibt es denn für die Planung in Kindergärten und Schule Zahlen?

Schrömbges Wir gehen rechnerisch davon aus, dass ein Drittel der Asylbewerber unter 18 Jahren ist. Davon entfällt geschätzt ein Drittel auf den Kindergartenbereich, ein Drittel auf die Grund- und ein Drittel auf die weiterführenden Schulen. Im Schulbereich haben wir bezüglich des Schulraums und der Zügigkeiten hinreichend Kapazitäten - die Lehrer stellt das Land. Im Kindergartenbereich kommt erschwerend hinzu, dass die räumliche Konzentration der Übergangsheime zur Belegung der anliegenden Kindergärten führt. Ein erhebliches organisatorisches Problem.

Wie sieht es auf dem sozialen Wohnungsmarkt aus?

Schrömbges Das Handlungskonzept Wohnen weist aus, dass Viersen in den kommenden Jahren jährlich 24 neue Wohneinheiten benötigt. Bei dem Konzept war die Asylbewerberzuwanderung dieses Jahres nicht eingerechnet. Wir müssen eine Konkurrenzsituation auf dem sozialen Wohnungsmarkt vermeiden. Einige Neubauprojekte sind angestoßen und werden hoffentlich Ende 2016 fertiggestellt. Inzwischen wurden Anreize für Investoren und bauordnungsrechtliche Vereinfachungen geschaffen, zum Beispiel im Nachweis von Stellplätzen und bei der Ansiedlung in Gewerbegebieten. So kann zügiger gebaut werden.

Sie klagen oft über bürokratische Hürden . . .

Schrömbges: Die Unterbringung hat sich durch Vorgaben des Bauordnungsrechtes schon mehrfach verzögert. Da war ein Schwesternwohnheim in Viersen. Die neue Nutzung als Flüchtlingsunterbringung hatte neue Brandschutzvorschriften zur Folge. Die Lieferung der zusätzlich benötigten Brandschutztüren dauerte mehrere Wochen.

Und wenn man pragmatische Lösungen findet?

Schrömbges Die Kollegen der Stadtverwaltung arbeiten zügig und kooperativ. Vieles wird pragmatisch geregelt. Aber man kann nicht erwarten, dass sich der "kleine Beamte" über das Bauordnungsrecht oder andere Rechtsvorschriften hinwegsetzt und dafür die alleinige Verantwortung übernimmt. Das muss der Gesetzgeber regeln.

Was ist Ihrer Ansicht nach nötig?

Schrömbges: Wir müssen die Probleme und Aufgaben, die sich uns stellen, mit dem Rat und der Bürgerschaft besprechen und lösen. Die Verwaltung arbeitet an einem Masterplan, der dem Rat im Frühjahr zur Entscheidung vorgelegt werden wird.

Was würden Sie den Bürgern sagen?

Schrömbges Integration ist Arbeit. Sie ist nicht auf der Folklore-Ebene abzuhandeln. Politik und Verwaltung müssen nicht nur das Was beantworten, sondern auch das Wie. Die Probleme, die sich stellen - dazu gehören maßgeblich auch Wahrheit und Klarheit in der Finanzierungsfrage - sollten klar benannt und Lösungsvorschläge entwickelt werden. Es darf keinen Glaubwürdigkeitsverlust geben. Sonst befürchte ich, dass wir einen politischen Rechtsruck befördern.

Kann man die Situation auch positiv betrachten?

Schrömbges Viersen wird bunter werden, das ist sicher. Ich finde es bemerkenswert, dass unsere Stadt - Rat, Verwaltung und Bürgerschaft - die Flüchtlingsfrage gelassen und engagiert angeht. Der Grundkonsens steht, die neuen Bürger an- und aufzunehmen.

SABINE JANSSEN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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