Brüggen Ein vagabündisches Leben

Brüggen · Im beschaulichen Bracht lebt der Weltenbummler Dirk Hespers, der mit seinen Abenteuern und der Lebensgeschichte seines Vaters schon mehrere Bücher füllte. Morgen wird er 85 Jahre alt.

 Dirk Hespers plant für April zwei Konzerte mit Freunden.

Dirk Hespers plant für April zwei Konzerte mit Freunden.

Foto: Raupold

"Was waren das für unheimlich mächtige Wellenberge, die unseren Untergang wollten! 'Laß den Anker fallen und befestige das Ankerseil am Mast', schrie Käpten Juri." Dieses Abenteuer in einem kleinen Boot auf dem Suez-Kanal schildert Dirk Hespers in seinen Memoiren "Trampt durch Länder, Kontinente". Sein Leben lang war er unterwegs. Im Gespräch kommt er "vom Höcksken aufs Stöcksken", springt von Schweden nach Libyen, vom Hunsrück nach Sizilien.

Mit 19 Jahren ging es richtig los, als Hespers, der nach dem Krieg Mitglied in einer Bündischen Jugendgruppe wurde, ohne Geld, aber mit einem Kameraden 1951 durch Belgien und Nordfrankreich trampte. Eine Tour, die im Gefängnis von Dijon endete, zu sechs Wochen verurteilt, wegen "vagabondage" und illegalem Grenzübertritt.

Ein Jahr später trampte er mit Freunden nach Schweden, wo sie als Straßenmusiker ihr Reisegeld verdienten. "Wir haben vom Betteln und Singen gelebt, das hatten wir zuvor in Dörfern in der Eifel geübt", sagt er. Im Städtchen Härnösand schließlich verdingte sich die Truppe für einige Zeit als Hausmusiker in einem Restaurant, geführt von "Mama Jenny". Sie hatten eine tolle Zeit in Schweden, wie Hespers erzählt - inklusive etlicher erotischer Abenteuer. Zum Ende hatten sie einen Verdienst von rund 1.000 Kronen eingespielt, der als Basis für die nächste große Fahrt diente, die über Spanien nach Nordafrika führen sollte.

 1952 trampte Dirk Hespers mit Freunden nach Schweden. Als Straßenmusiker verdienten die jungen Leute ihr Reisegeld. "Wir haben vom Betteln und Singen gelebt, das hatten wir zuvor in Dörfern in der Eifel geübt", erzählt Hespers.

1952 trampte Dirk Hespers mit Freunden nach Schweden. Als Straßenmusiker verdienten die jungen Leute ihr Reisegeld. "Wir haben vom Betteln und Singen gelebt, das hatten wir zuvor in Dörfern in der Eifel geübt", erzählt Hespers.

Foto: Hespers

Wenn Dirk Hespers - der von Geburt eigentlich Dietrich heißt - zuhause in Bracht in der Küche sitzt und lebhaft von vergangenen Abenteuern erzählt - und das sind nicht wenige -, kommen früher oder später auch seine Kindheit und Jugend zur Sprache, und dann wird er ernst.

Denn die "Reisen" seiner Kindheit kamen nicht freiwillig zustande. Dirk Hespers ist der Sohn des katholischen Widerstandskämpfers Theo Hespers, der schon 1933 vor den Nazis in die Niederlande flüchten musste und seine Familie nachholte. Zwar waren die ersten Jahre dort für den kleinen Jungen eine herrliche Zeit. Aber immer schwebte über seinem Vater, der weiterhin nazifeindliche Schriften verfasste, die Bedrohung, von der Gestapo entführt zu werden. Das hatte sie schon einmal nahe der Grenze versucht. Daher zog die Familie häufiger um. Und der Name des Kindes wurde in den im flandrischen Raum unauffälligeren Namen "Dirk" geändert. Am 10. Mai 1940 überfielen deutsche Truppen die Niederlande, Dirks Flucht begann: Im Auto, auf dem Rad, zu Fuß und auf einem Boot versuchte die Familie, im Bombenhagel und unter Stuka-Beschuss einen rettenden Hafen zu erreichen. In Dünkirchen verweigerte der englische Hafenkommandant ihnen jedoch die Überfahrt - nur Männer durften auf die Boote -, so dass sie beschlossen, in Belgien unterzutauchen. 1942 wurde Theo Hespers in Antwerpen verhaftet und am 9. September 1943 in Berlin-Plötzensee von den Nazis hingerichtet. Seine Frau kam ins Gefängnis.

Der elfjährige Dirk wurde zu seiner Großmutter nach Mönchengladbach gebracht, seine Mutter kam nach elfmonatiger Haft in Vechta auch zurück in die Heimatstadt. Dort erfuhr der Junge erst spät von der Ermordung des Vaters. Dieses Ereignis machte ihn zum Nachlassverwalter Theo Hespers'. Er gründete 1993 mit Mitstreitern die Theo-Hespers-Stiftung, deren 2. Vorsitzender er noch immer ist, und die sich mit der Herausgabe von Schrifttum und mit Veranstaltungen dem Andenken des Widerstandskämpfers widmet. Auf dem Friedhof in Mönchengladbach erinnert eine Gedenktafel an Theo Hespers. In naher Zukunft soll in Mönchengladbach eine Stele mit Textfragmenten von Theo Hespers aufgestellt werden, die der Künstler Jürgen Pankarz aus Kempen gestaltete.

Die Ereignisse der Kindheit und Jugend - später wurde Dirk Hespers bei einem Bombenangriff auf Mönchengladbach verschüttet und verletzt, seine Tante kam dabei ums Leben, - prägten aber noch auf andere Weise sein Leben: In einem Blog, der die Geschichte von Theo Hespers aufarbeitet, schildert eine von Dirk Hespers Töchtern eindrücklich seine manchmal merkwürdigen Verhaltensweisen im Alltag, seine Bindungsschwierigkeiten und auch, dass er sich nie psychologisch mit den Kriegserlebnissen auseinandergesetzt hatte: "Erst vor wenigen Jahren sind diese Kriegstraumata bei ihm wieder hervorgebrochen. Vielleicht sogar zum ersten Mal so richtig in seinem Leben. Zwei Jahre lang war er schwer depressiv, konnte das Haus nicht verlassen, ist völlig abgemagert, hatte Panikattacken und Beklemmungen." Da war Dirk Hespers 83 Jahre alt.

Dirk Hespers - von seinen Freunden auch "Drikkes" genannt - hatte neben Weltenbummler und Nachlassverwalter noch viele weitere Berufe in seinem Leben: Er war Maurer, Matrose, Liedermacher, Literat, Lehrer. Und das sind beileibe nicht alle Rollen. Als Lehrer in Mönchengladbach und Umgebung verdiente der ehemalige Maurerlehrling seit 1963 für sich und seine Familie (er hat fünf Kinder aus zwei Ehen) den Lebensunterhalt, nachdem er auf den Rat eines Freundes hin 1954 am Abendgymnasium das Abitur nachgemacht und in Aachen Pädagogik studiert hatte. Und das, obwohl ihm die Institution Schule nie gefallen hatte: "Als ich zum ersten Mal als Schüler in die Volksschule in Mönchengladbach ging, hieß es ,dreckiger Holländer'", erzählt er. Und auch später hatte er immer wieder Ärger in der Schule.

Für seine wichtigste Rolle als Liedermacher und Volksliedforscher, die ihn überregional bekannt machte, war sein Lehrerberuf aber von Vorteil: "Als Lehrer hatte ich nachmittags frei, und da fiel mir meine Zeit in Holland wieder ein. Und in Verbindung mit meinem Musizieren kam mir die Idee zu den Geuzenliedern. Ich habe mir dann ein paar Bücher über diese holländischen Widerstandslieder aus dem 16. Jahrhundert besorgt und Lieder ausgewählt. Fast zeitgleich lernte ich auf einer Party den Musiklehrer und Akkordeonisten Walter Schmitt kennen. Mit ihm und einigen anderen habe ich dann 1978 im Eigenverlag die erste LP von ,Dirk & Makkers' produziert, die sich allerdings schlecht verkaufte."

Es folgten verschiedene Tonträger mit Liedern der Jugendbewegung, Liebes- und Protestliedern sowie plattdeutschen Liedern, wobei seine bekanntesten Titel, etwa "Trampt durch Länder, Kontinente" oder "Es hockt am Kamin um Mitternacht", schon aus den 1950er-Jahren datieren. Im Jahr 2008 veröffentlichte Dirk Hespers eine CD mit Liedern der Edelweißpiraten, was wiederum zu verschiedenen Auftritten auf dem Kölner "Edelweißpiratenfestival" führte. Seine Liedermachertätigkeit, die Erforschung niederrheinischen Liedgutes, auch in diversen Publikationen, und das Engagement für eine Aufarbeitung der NS-Zeit sowie gegen neue, rechtsradikale Tendenzen, brachten ihm im Jahr 1995 die Auszeichnung mit dem Rheinlandtaler des Landschaftsverbands Rheinland ein.

In seiner Geburtsstadt Mönchengladbach, die allerdings nie wieder eine richtige Heimat für den rastlosen Tramper war, feiert er mit vielen Freunden und Familie morgen seinen 85. Geburtstag. Pläne für die nächste Zeit hat er auch schon: "Ich schreibe an neuen Gedichten, die ich in einem Buch mit Illustrationen eines Freundes herausbringen möchte, und im April spiele ich mit Freunden zwei Konzerte in Wuppertal und Amsterdam."

Die Fahrt auf dem Suez-Kanal ging übrigens gut aus für ihn und Freund Juri. Auch wenn ihr Boot im Sturm zerstört wurde, so kamen sie an Land und setzten ihre Reise, alsbald getrennt, fort. Hespers heuerte in Port Tewfik auf einem schwedischen Frachtschiff an und kehrte - nach einigen Runden über die Weltmeere - nach Deutschland zurück.

(RP)
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