Viersen Das Labyrinth unterm Bockert

Viersen · In der Honschaft gibt es Tunnel, die mehrere Jahrhunderte alt sind und einst Bauernhöfe miteinander verbanden — so heißt es zumindest. Ob die Geschichten wahr sind, ist ungewiss. Theo Stappen kroch als Kind in ein Loch hinein

 Theo Stappen hat den alten Vorratskeller auf dem Hof seiner Eltern seit vielen Jahren nicht betreten. Durch jenes Loch kroch er einst in einen unterirdischen Gang hinein.

Theo Stappen hat den alten Vorratskeller auf dem Hof seiner Eltern seit vielen Jahren nicht betreten. Durch jenes Loch kroch er einst in einen unterirdischen Gang hinein.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Nach vier oder fünf Metern auf allen Vieren verlässt Theo Stappen der Mut. Um ihn herum ist es dunkel und stickig, die Luft so dünn, dass die Kerze in seiner Hand flackert. Der damals Zwölfjährige kehrt um und kriecht den Tunnel entlang zurück in den sicheren Vorratskeller auf dem Hof seiner Eltern in Viersen-Bockert. Der Vater schimpft und schüttet das Loch mit Sand und Erde zu. Wie weit der Gang noch geführt hätte? Der Überlieferung nach bis zum Jennenhof, vielleicht rund 100 Meter entfernt.

 Damit sich niemand in dem maroden Tunnel in Gefahr begab, schüttete Theo Stappens Vater das Loch zu.

Damit sich niemand in dem maroden Tunnel in Gefahr begab, schüttete Theo Stappens Vater das Loch zu.

Foto: Busch Franz-Heinrich sen.

In der frühen Neuzeit hat die Bevölkerung am Niederrhein sehr gelitten, sagt Marcus Ewers vom Kreisarchiv Viersen: "Es war eine furchtbare, wilde Zeit." Es tobten die Glaubenskriege, die Spanier kämpften gegen die Niederländer, in Frankreich wütete der Sonnenkönig, die Habsburger arbeiteten sich nach Belgien vor, und Söldnerheere von rund 100.000 Mann plünderten die niederrheinischen Bauernhöfe. "Die Menschen mussten sich schützen", sagt Ewers.

Der Archivar ist sich sicher, dass sie Tunnel gruben, durch die sie ihre Höfe miteinander verbanden - und bei drohender Gefahr einfach unter der Erde verschwinden konnten. Nicht nur im Bockert, sondern auch im Hoser "Es war eine Gemeinschaftsleistung, man hat sich gegenseitig geholfen", sagt Ewers. Wie sie das über weitere Entfernungen schafften und was mit der ausgehobenen Erde passierte, sei unklar.

Einem Artikel nach, der im Juli 1938 in der Rheinischen Landeszeitung erschien, gab es Spuren diverser Gänge in den Kellern des Hüpkeshofs in Bockert (heute vermutlich Kreuzstraße 5) und des Henneshofs (Zu den Mühlenweg/Landwehrstraße in Hoser). Der Viersener Historiker Karl Mackes berichtete 1956 von einem Erdhöhlenlabyrinth, es diente "zum Schutze und der Sicherheit der Bewohner". Wie alt es sein könnte, sei ungewiss, sagt Ewers: "Die erste Notwendigkeit gab es wohl 1423, als das Herzogtum Geldern zerbrach."

Laut Mackes wurde in einem Stollen an der Kreuzstraße eine römische Öllampe aus Ton gefunden, 1933 stieß man bei Umbauarbeiten im Pooshof auf einen unterirdischen Gang und dort auf ein "sonderbares kleines Gefäß aus Kölner oder Siegburger Ton sowie ein Spinnwirbel aus grauem Ton". August Hellers soll 1934 bei Grabungen an der Kreuzstraße in einen Gang gestürzt sein und ebenfalls ein Tongefäß gefunden haben. "Das Stück ist mindestens der Zeit des ausgehenden Mittelalters zuzuweisen", schreibt Mackes. Er traute den Menschen - laut Ewers lebten in Viersen um 1600 etwa 3000 Einwohner - viel zu: Demnach führte ein Tunnel gar vom ehemaligen Portenhof am Pittenberg in Alt-Viersen unter dem Lichtenberg hindurch zum Junkershof in der Nähe des ehemaligen Kaiser's-Verwaltungsgebäudes. Den Überlieferungen nach soll es sich bei den Gängen um lange Stollen gehandelt haben, durch die man nur kriechen konnte und die in Abständen kammerartig erweitert waren. Sie sollen kreuz und quer verlaufen sein. "Wer sich nicht auskannte, hätte sich verlaufen", sagt Ewers.

Auch Wilfried Kluß ist überzeugt davon, dass es die Tunnel gab und es auch heute noch einige gibt. "Ich habe keinen Zweifel", sagt er. Als Kind stieg er auf dem Jennenhof mit Freunden in ein Loch, von dem sie glaubten, es gehöre zu einem Tunnel. Auch sie kamen nicht weit. "Es hat furchtbar gestunken, es war gruselig, und wir sind nach einigen Metern schon umgekehrt", erinnert sich der heute 73-Jährige. "Ob es der verloren gegangene Mut oder die Vernunft war, ich kann mich nicht mehr genau erinnern." Wären sie weitergekrochen und hätten die Überlieferungen recht, wären sie auf dem Stappenhof wieder aus der Erde gekommen.

Theo Stappen (67) hat nie wirklich an die Tunnel geglaubt, sagt er heute. Aber eine Verbindung zwischen dem Stappen- und dem Driessenhof, wie es sie gegeben haben soll, hätte Sinn ergeben, die Familien waren verwandt. Den Driessenhof gibt es heute nicht mehr, den Stappenhof hat die Familie Ende der 70er aufgegeben. Bruder Willy (62) hat dort noch eine kleine private Werkstatt. Den Vorratskeller mit dem zugeschütteten Loch hat seit Jahren niemand betreten.

Theo Stappen bleibt skeptisch, doch eines muss er zugeben: "Auf unserer Wiese standen die Bäume ganz gerade, nur einer, genau zwischen unserem und dem Driessenhof, wuchs schräg." Ob seine Wurzeln vielleicht in einen unterirdischen Gang gerutscht waren? Theo Stappen zuckt mit den Schultern.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort