Tönisvorst Plädoyer für die Menschlichkeit

Tönisvorst · In Erinnerung an die Reichspogromnacht im November 1938 zogen etwa 80 Menschen schweigend durch die Stadt. Jugendliche der weiterführenden Schulen legten einen Kranz nieder.

 Etwa 80 Tönisvorster sind von der Kirche St. Cornelius durch die Fußgängerzone zum Krankenhaus gezogen, wo bis 1938 in St. Tönis eine Synagoge stand. Rabbiner Jitzchak Mendel Wagner hält eine bewegende Ansprache.

Etwa 80 Tönisvorster sind von der Kirche St. Cornelius durch die Fußgängerzone zum Krankenhaus gezogen, wo bis 1938 in St. Tönis eine Synagoge stand. Rabbiner Jitzchak Mendel Wagner hält eine bewegende Ansprache.

Foto: WOLFGANG KAISER

Zurück bleibt heller Kerzenschein in einer dunklen Nacht. "Die Lichter zeigen, dass die Dunkelheit letztlich nicht gesiegt hat, nicht siegen darf", sagt Bürgermeister Thomas Goßen in seiner Ansprache beim Schweigemarsch zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938. Etwa 80 Menschen sind am Donnerstagabend von der katholischen Kirche in St. Tönis durch die Fußgängerzone zum Krankenhaus gezogen, wo bis 1938 eine Synagoge stand. Die Kerzen, die die Menschen während des Schweigemarschs in den Händen tragen, stellen sie dort ab. Auch einen Kranz legen Schüler des Michael-Ende-Gymnasiums und der Rupert-Neudeck-Gesamtschule nieder.

Vor zehn Jahren hat die Schülervertretung des Tönisvorster Gymnasiums erstmals zum Schweigemarsch am 9. November aufgerufen. Viele Jugendliche der anderen weiterführenden Schulen, Vertreter der Stadt, der evangelischen und der katholischen Gemeinde, sowie Mitglieder von Parteien und Bürger nahmen daran teil. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Im Laufe der Jahre aber kam noch ein weiteres Engagement der Gymnasiasten hinzu: Sie gründeten an ihrer Schule eine Stolperstein-AG und setzen sich seitdem mit anderen Bürgern dafür ein, dass in St. Tönis und Vorst vor Häusern, in denen Menschen gelebt haben, die von den Nazis verfolgt wurden, Stolpersteine verlegt werden.

Auch an der Hochstraße in St. Tönis vor den Häusern 65 und 67 gibt es solche Stolpersteine. Dort hält der Rabbiner Jitzchak Mendel Wagner am Donnerstagabend als Gastredner eine bewegende Ansprache. Die Reichpogromnacht, sagt der Rabbiner, sei ein Testversuch der Nazis gewesen. "Wie wird die Welt reagieren, wenn in einer Nacht 1000 Synagogen in Deutschland brennen?", hätten sich die Nazis gefragt. "Was sagt die Sowjetunion, was Washington? Werden wir Demonstrationen am Eiffelturm sehen?" Die Zuhörer kennen die Antwort: Die Welt reagierte nicht.

"Ich war im Holocaust-Museum in Washington", erzählt Rabbi Wagner, "dort gibt es eine Abteilung zum 9. November 1938. Und es gibt Zeitungsausschnitte aus den Tagen danach: Die New York Times hatte auf Seite 27 eine kleine Meldung zum Synagogenbrand in Deutschland." Spätestens da sei den Nazis klar gewesen, dass sie Häuser anzünden, Bücher verbrennen und Menschen vergasen können, ohne, dass die Welt aufschreit. Aber das, sagt der Rabbiner, sei nicht die Lehre aus dem Holocaust, die Lehre sei, dass man Mensch bleiben müsse und Menschlichkeit zeigen müsse, auch in der tiefsten Nacht.

Auch die Vertreterinnen der Kirchengemeinden, Pfarrerin Daniela Büscher-Bruch und Gemeindereferentin Stefanie Müller, rufen in ihrer Ansprache dazu auf, "für Andere einzustehen, auch wenn es etwas kostet." Nick van den Heuvel, Schülersprecher des Michael-Ende-Gymnasiums, sagt, es sei wichtig, dass sich auch heute noch Menschen an die Grausamkeiten erinnern. "In dem wir der Opfer gedenken, erweisen wir ihnen Ehrerbietung. Die Geschehnisse der Nazizeit dürfen sich nicht wiederholen und deshalb dürfen sie nicht in Vergessenheit geraten." Timo Seupel, Moritz Hirt und Chris Klingenberg von der Rupert-Neudeck-Gesamtschule lesen Auszüge aus einem Buch des Cap Anamur-Gründers und Namensgebers ihrer Schule. Darin schildern vietnamesische Bootsflüchtlinge ihr Schicksal. "Die Texte zeigen, dass Flucht und Vertreibung, Demütigung und Repressalien immer ein Thema sind", sagt Lehrerin Birgit Sokol.

(WS03)
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