Tönisvorst Ein Licht am Horizont

Tönisvorst · Die Rheinische Post stellt in loser Folge Menschen vor, die vor Krieg, Verfolgung, Elend und Armut geflohen sind. Sie erzählen, warum sie ihre Heimat verlassen haben, welche Hoffnungen sie haben, wie sie in Deutschland leben.

 Die zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierte Turnhalle an der St. Töniser Jahnsportanlage ist ein Symbol für zerstörte Hoffnungen und geplatzte Träume. Rund 40 Männer sind dort untergebracht.

Die zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierte Turnhalle an der St. Töniser Jahnsportanlage ist ein Symbol für zerstörte Hoffnungen und geplatzte Träume. Rund 40 Männer sind dort untergebracht.

Foto: Wolfgang Kaiser

Ibrahim kann es nicht glauben. Eine so frohe Botschaft hat der junge Mann seit vielen Jahren nicht mehr bekommen. In dieser Woche wurde die Dublin-III-Verordnung für Menschen, die aus Syrien gekommen sind, außer Kraft gesetzt. Die Verordnung besagt, dass alle Flüchtlinge in das Land zurückgeschickt werden, in dem sie erstmals den Boden der EU betreten haben. Dass diese Regelung nun für ihn nicht mehr gilt, bedeutet Ibrahims Rettung.

Vor vier Monaten ist der heute 21-Jährige über Ungarn in die EU gekommen. Dort ist er erwischt worden, kam ins Gefängnis, wo er unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten wurde. Erst als er unter Androhung von Schlägen seine Fingerabdrücke gab, ließ man ihn laufen. Ibrahim schlug sich nach Deutschland durch. Seit Anfang Mai lebt er in der Turnhalle an der St. Töniser Jahnsportanlage.

Rund 40 Männer sind dort untergebracht. Freundschaften haben sich gebildet, und die Ehrenamtler der Flüchtlingshilfe Tönisvorst kümmern sich vorbildlich um die Menschen. Sie geben Deutschunterricht, sammeln defekte Fahrräder, die die Männer reparieren, und bringen gespendete Turnschuhe, damit die Flüchtlinge Fußballspielen oder joggen können. Auch die Mitarbeiter der Stadt unterstützen die Flüchtlinge, wo sie können. Trotzdem ist die Stimmung gedrückt. Die Turnhalle ist ein Symbol für zerstörte Hoffnungen und geplatzte Träume.

Die Männer, die dort gestrandet sind, haben ihre Heimat verlassen, weil es keine Perspektive für sie gab. Sie hatten gehofft, in Deutschland arbeiten zu können, Geld zu verdienen. Sie hatten davon geträumt, sich etwas aufzubauen und ein besseres Leben ohne Krieg, Verfolgung und Angst führen zu können. Stattdessen sitzen sie in einer Turnhalle ohne jede Privatsphäre und sind zum Nichtstun verdammt, denn solange sie nicht anerkannt sind, dürfen sie keinen Integrationskursus besuchen, kein Geld verdienen, sich nicht aus dem Ort fortbewegen. Nicht mal kochen können sie, weil Herdplatten aus Sicherheitsgründen in der Turnhalle nicht erlaubt sind.

Aber nicht nur die aktuellen Lebensumstände und die ungewisse Zukunft sind es, die die in der Turnhalle Gestrandeten bedrücken. Sie alle haben Bilder im Kopf, die sie nicht mehr loslassen, und sie alle haben Menschen verloren, die sie liebten. Ibrahim erzählt, dass er noch heute seinen Bruder sieht, der in einem Feuer verbrannt ist, das eine Rakete ausgelöst hat. "Ich träume davon, dass ich zu ihm laufe und ihm helfe", erzählt der junge Mann. Als bei einem weiteren Raketenangriff das Haus seiner Eltern in Aleppo stark beschädigt wurde und die Familie eine Zeit lang obdachlos war, rieten die Eltern ihrem letzten überlebenden Sohn, ins Ausland zu gehen.

Sie gaben ihm Geld, mit dem er Fluchthelfer bezahlte, Grenzbeamte bestach, Essen kaufte. Gemeinsam mit 36 anderen Menschen aus Syrien machte sich Ibrahim auf den Weg. Im Lastwagen, im Schlauchboot, zu Fuß und im Auto waren sie unterwegs. 28 Tage hat die Flucht gedauert. Von den ehemals 37 Flüchtlingen kamen neun in Deutschland an. Die Flucht war für Ibrahim die Hölle. Bevor er von der Aussetzung des Dublin-III-Abkommens erfuhr, hat er gesagt: "Ich würde nicht noch einmal flüchten. Ich würde bei meinen Eltern in Aleppo bleiben, auch wenn das Alltag im Krieg bedeutet."

Nun hat das Blatt sich gewendet. Ibrahim hat gute Chancen, in Deutschland bleiben zu dürfen. Sein Schulabschluss ist dem deutschen Abitur gleichwertig und bereits als solches anerkannt. Sobald er die Sprache beherrscht, kann er hier das Maschinenbau-Studium fortsetzen, das er in Syrien bereits begonnen hatte.

Manchmal gibt es auch in der Turnhalle einen Hoffnungsschimmer am Horizont.

(WS03)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort