Solingen Jeder für sich mit allen zusammen

Solingen · Das Rheinische Landestheater Neuss ging mit "Wir sind keine Barbaren" Ängsten und Vorurteilen auf den Grund.

Die Strukturen unserer Gewohnheiten errichten Grenzen - räumlich, sprachlich, institutionell. In "Wir sind keine Barbaren" erschüttert ein Fremder das fragile Idyll unserer Klischees - ohne selbst aufzutreten. Es genügt, über den zu reden, den man nicht kennt: den Flüchtling, den Asylanten. Sahar Amini inszenierte Philipp Löhles Stück mit vier Akteuren des Rheinischen Landestheaters Neuss feinfühlig und intensiv. Und förderte bei der Aufführung im Pina-Bausch-Saal dessen Stärken ebenso zutage wie einige scriptbedingte Schwächen. Die Stärken lagen in der konsequenten, durchdachten Inszenierung und der Stärke der Darsteller.

Die Grundstückshecke ist die allegorisch-szenische Grenze, innerhalb derer Barbara und Mario (Linda Riebau, Andreas Spaniol) und die neuen Nachbarn Linda und Paul (Alina Wolff, Stefan Schleue) im So-lala-Modus der Piefigkeiten ihrer ereignisarmen Welt agieren. Da ist die missglückte Geburtstagsüberraschung für Barbara, mit der sich Flachbild-TV-Narr Mario im Grunde selbst beschenkt, da ist das durch die Wand dringende, grotesk verfremdete Stöhngewinsel des Liebesspiels der neuen Nachbarn, und da ist das biedere Kennenlern-tete-a-tete der Paare mit Sekt und Prösterchen. So sind sie, die Spießer der Mittelschicht, über die der - aus Laiendarstellern bestehende - Heimatchor in intensiven Sprechgesängen nach dem Vorbild der antiken Tragödie immer wieder reflektiert: "Wir sind viele. Jeder für sich mit allen zusammen. Wir sind verheiratet. Wir sind glücklich."

Glücklich? Das Idyll schwankt, und die zwischen den Szenen leitmotivisch eingespielte, sich selbst ständig stärker verfremdende Nationalhymne schafft wachsende Beklemmung. Die noch zunimmt, nachdem Barbara einen Fremden aufgenommen hat. Der "Hunger hat und Hilfe braucht". Er ist für sie "Pars pro Toto für die Unterdrückten dieser Welt." Die anderen aber baden in Vorurteilen und Ängsten. Der Fremde schafft Unbehagen, fördert in der Kommunikation die Klischeeebene ihrer inneren Begrenztheit zutage, an deren Spitze uns Unworte wie "Gutmenschendenken" und der Satz "Wir können nicht die ganze Welt retten" aus der Flüchtlingskrisendebatte bekannt vorkommen. Den Bogen zu letzterer will das Stück auch ziehen, und da beginnen dessen Schwächen. Weil es dadurch einen vorhersehbaren, schablonenhaften Bogen entwickelt, der viel platter ist als die feinziselierte satirische Doppelbödigkeit zuvor und somit eigener Klischeehaftigkeit nicht entkommen kann. Nämlich verschwindet Barbara mit dem Fremden, kommt zu Tode - und "Der Neger" soll es gewesen sein. Wer sonst? Und über dem Fremden wird in dessen Absenz aller verbale Unrat abgeworfen, den die Klamottenkiste der Vorurteile hergibt - bis sich herausstellt: Mario war es aus Eifersucht. Der Ehemann.

Der Chor raunt den Abgesang, in dem "Wir wollen Strom - keinen Flüchtlingsstrom" nicht fehlen darf. Letztere Kurve war zu viel des Guten und in ihrer fast schulstückartigen Konstruiertheit etwas platt. Ansonsten war es ein tolles, sprachlich brillantes Stück, das vom Publikum viel Beifall bekam.

(RP)
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