Solingen Im Einsatz mit der rollenden Arztpraxis

Solingen · Allgemeinmedizinerin Susanne Kreil gehört zum ehrenamtlichen Team des Solimed-Netzes, das aus einem ausrangierten Rettungswagen ein Medi-Mobil machte. Jetzt war sie mit Sparkassen-Personalleiter Holger Migdalek als Fahrer im Einsatz, um Bedürftigen zu helfen.

Als Susanne Kreil kurz vor 17 Uhr den Aufenthaltsraum des Café Faxe an der Hansastraße betritt, ziehen sich die Mundwinkel einiger Besucher nach oben. In der Ohligser Anlaufstelle für Drogenabhängige - darunter viele Heroinsüchtige - wird gerade Dart gespielt, geredet und geraucht. Die Ärztin grüßt freundlich in die Runde. Man kennt sich. "Alles in Ordnung?", fragt die 49-Jährige. Hinter der Frage, die so oft als Begrüßungsfloskel zweckentfremdet wird, steckt in diesem Moment wesentlich mehr. Susanne Kreil möchte wirklich wissen, ob alles in Ordnung ist. Gesundheitlich. Es wird genickt. In ihrer rechten Hand hält sie einen kleinen schwarzen Koffer, der jedoch große Dienste leisten kann. "Schmerzmittel, Hustenlöser, fibersenkende Medikamente", gibt sie einen kleinen Einblick in ihre Ausrüstung.

Wenige Minuten später steht Susanne Kreil wieder vor der weißen Tür der Beratungsstelle. Ein Mercedes Sprinter in auffälligem Gelb und einem knallig roten Streifen an der Seite hat soeben in der Einfahrt Halt gemacht - das Medi-Mobil. Jeden Dienstag-Abend startet es von der Hansastraße aus. Immer an Bord: Einer von den rund 20 Solimed-Netzärzten, die die bedürftigen Menschen nach einem festgelegten Dienstplan betreuen, ein Arzthelfer sowie einer von insgesamt acht ehrenamtlichen Fahrern.

Diese Aufgabe hat heute Holger Migdalek. In unregelmäßigen Abständen tauscht der Personalleiter der Stadt-Sparkasse Solingen Anzug und Krawatte gegen Fleecepulli und orangene Rettungshose, um sich hinter das Steuer des Medi-Mobils zu setzen.

"Ich war 32 Jahre lang beim Rettungsdienst, wollte meine ehrenamtliche Tätigkeit aber nicht aufgeben, und das war eine gute Lösung. Man merkt, wie wichtig es ist, wenn man die Hilflosigkeit mancher Menschen sieht", erklärt der 54-Jährige. Er steuert einen ausrangierten Rettungswagen aus Magdeburg, dessen Automatikgetriebe die holprige Fahrt durch Solingens bergige Straßen erleichtert. In den türkisfarbenen Schubladen im Bauch des Fahrzeugs befindet sich alles Nötige für den mobilen medizinischen Einsatz - ein Grundbestand an Medikamenten, Antiallergika oder kleine Behälter, um Salben abzufüllen.

In den nächsten zwei Stunden werden Susanne Kreil und Holger Migdalek gemeinsam vier Stationen anfahren, um obdach- und mittellosen Menschen Hilfe anzubieten, für die etwas Elementares unerschwinglich ist - eine medizinische Versorgung. Ohne Hindernisse, ohne Bürokratie. Lediglich Karteikarten mit den Namen der Patienten werden angelegt, um eine Identifikation bei einer späteren Behandlung zu erleichtern. Ein fiktiver Name täte es in diesem Fall auch. "Bei vielen spielt neben der finanziellen Not auch Schamgefühl eine große Rolle, warum sie einen Praxis-Besuch meiden", erklärt Susanne Kreil, die auf ihren Touren oft von ihrem Sohn Justus begleitet wird - er möchte auch Mediziner werden.

Höchste Zeit, loszufahren. Schließlich ist man bereits ein paar Minuten in Verzug und die Patienten sollen nicht warten. Zunächst geht es zur Ohligser Bahnhofsmission, wo jedoch noch kein Patient die medizinische Hilfe von Dr. Kreil in Anspruch nimmt. "Als der Brunnen gegenüber des Bahnhofs noch existierte, haben sich die Obdachlosen aus Ohligs dort getroffen. Wo der neue Treffpunkt ist, weiß ich nicht", erklärt Holger Migdalek. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Bahnhofspersonal am Info-Point geht es weiter in Richtung Solinger Tafel, wo ein wesentlich längerer Einsatz auf die zwei Ehrenamtler wartet.

Vor dem Gebäude an der Ernst-Woltmann-Straße versammeln sich bereits zahlreiche Menschen. Auch im Inneren des Hauses ist es voll und laut. Es riecht nach Brot und Gemüse. Viele verschiedene Sprachen schallen durch den großen Raum. Es dauert nicht lange, bis die ersten Patienten Susanne Kreil ansprechen. Sie bittet sie nacheinander in den Wagen. Bei jedem Patienten schließt die Allgemeinmedizinerin die schwere Schiebetür des Wagens. Schließlich soll auch bei einer mobilen Praxis die Privatsphäre gewahrt bleiben.

Der Einsatz vor der Tafel dauert rund 45 Minuten. Die Beschwerden sind dabei so unterschiedlich, wie die Menschen selber - Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Fremdkörper im Auge. Kleinigkeiten für die erfahrene Ärztin, die in Aachen und Bonn Medizin studierte. Auch Malu Sinnathurai wartet vor der Tafel auf medizinische Unterstützung. "Ich brauche eine Salbe für mein Bein", verrät er und lobt das Konzept des Medi-Mobils: "Für viele Menschen sind manche Medikamente einfach zu teuer. Da ist es toll, dass es so etwas gibt."

Acht Patienten lautet am Ende die Bilanz des Tafel-Einsatzes. "Es gab Tage, da sind wir dort kaum weggekommen", erinnert sich Susanne Kreil, die darauf aufmerksam macht, dass die Nachfrage aufgrund von Erkältungskrankheiten im Winter größer sei als in den Sommermonaten. Dass sie keinen Job hat, den man mit dem Mantel an der heimischen Garderobe ablegt, darüber ist sich die Medizinerin bewusst. Sie habe schon eine gewisse Zeit gebraucht, um sich an den Anblick von offenen, ungereinigten Wunden und Spritzenabszessen zu gewöhnen. Besonders die Tatsache, dass einige jungen Menschen, denen man ihre Heroinsucht absolut nicht ansähe, zum Medi-Mobil kämen, um sich neue Spritzen zu holen, sei erschreckend. Die Reaktionen der Menschen seien jedoch in den meisten Fällen freundlich und geprägt von Dankbarkeit. Neben dem Schachbrett vor den Clemens-Galerien sitzt eine kleine Gruppe auf der höchsten Treppenstufe. Es fließt Bier und Schnaps. "Braucht jemand medizinische Hilfe?", fragt Susanne Kreil. "Können sie mich nach Hause fahren", lautet die unerwartete Gegenfrage eines Mannes mit Glatze und schwarzer Jacke. Seiner Bitte kann nicht nachgegangen werden. Auch vor den Clemens-Galerien wird die Schiebetür mehrfach von innen geschlossen. Ein Mann im Rollstuhl lässt sich zudem außerhalb des Wagens beraten, was er gegen seine Schmerzen am Arm tun könne.

"Alle haben ihr Schicksal, warum sie hier sind", resümiert Holger Migdalek auf der Fahrt zur letzten Station, die laut Susanne Kreil nur noch "aus Traditionsgründen" angesteuert würde - der Platz gegenüber dem Ohligser Bahnhofs, an dem einst der Brunnen war. "In den vergangenen Monaten war hier nie jemand", sagt Kreil. Dass die Station trotzdem immer noch angefahren wird, ist wohl sinnbildlich für das Projekt Medi-Mobil - es könnte ja sein, dass doch irgendwann jemand Hilfe benötigt.

Um 19.10 Uhr, nach gut zwei Stunden auf Versorgungstour, steuert Holger Migdalek den Wagen wieder in die Einfahrt des Café Faxe. Ein weiterer Dienstag geht zu Ende. "Normalerweise ziehe ich das Unheil ja an, aber heute war es recht ruhig", sagt Susanne Kreil scherzhaft und verabschiedet sich mit hochgezogenen Mundwinkeln.

(RP)
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