Solingen Ein etwas anderer Leseunterricht

Solingen · Drei Monate brauchte Dirk Clauberg, um sich als Blinder zurechtzufinden. Vor neun Jahren bekam er einen Augeninfarkt und verlor sein Sehvermögen. Plötzlich auf Hilfe angewiesen zu sein - das war kompliziert.

Ein Grundschüler veränderte seine Einstellung. Als Clauberg ohne Orientierung auf dem Gehweg stand, bat ein kleiner Junge ihm seine Hilfe an. Das Besondere: Er warnte Clauberg, bevor er ihn anfasste. In diesem Augenblick entschied sich Clauberg, das richtige Helfen zu propagieren. Seither macht er in verschiedenen Schulen Unterricht unter dem Motto "Kinder lernen, blind zu sehen".

Dabei müssen die Kinder mit verbundenen Augen einen ihnen fremden Parkour durchlaufen. Geführt werden sie von einem Klassenkameraden, auf dessen Augenlicht sie sich verlassen müssen. Anschließend wird besprochen, welche Gefühle und Ängste die Kinder mit dem vorübergehenden Blindsein verbinden.

An der Sekundarschule Central geht Clauberg einem weiteren Projekt nach. Dreimal pro Woche gibt er in kleinen Gruppen ab der fünften Klasse Leseunterricht. Die Kinder, die nach dem Leseeingangstest in Klasse fünf als förderbedürftig eingestuft wurden, kommen mit Zustimmung ihrer Eltern freiwillig. "Warrior Cats", "Die drei Fragezeichen" und aktuell "Erebos" werden behandelt.

Insgesamt fünf Lesementoren betreuen knapp 30 Kinder in der Sekundarschule. Clauberg ist bereits seit sieben Jahren dabei. Er beginnt seinen Unterricht meist mit der Frage "Wie war Eure Woche?". Es gehe dabei darum, dass sich die Kinder in ganzen Sätzen artikulieren können. Auch über tagesaktuelle Nachrichten wird gesprochen. Clauberg möchte damit herausfinden, wo die Interessen der Kinder liegen. Eine klassische Benotung wie im konventionellen Unterricht gibt es nicht. Vielmehr geht es um Selbsteinschätzung und die Beurteilung durch die eigenen Klassenkameraden.

Manchmal frühstücken alle miteinander, und das kommt gut an: Die Schüler sind begeistert, kommen gerne zu Claubergs Lesestunde. "Es macht Spaß, und ich werde davon in Deutsch besser", erzählt Mehmet. Seine Klassenkameradin Charlie ergänzt: "Es ist nicht so trockener Unterricht. Herr Clauberg kümmert und sorgt sich richtig um uns." In kleinen Gruppen können Einzelne besser gefördert werden als in einem großen Klassenverband.

Neben der Aufgabe, Kindern das flüssige Lesen beizubringen, gehe es vor allem um Betreuung. Die Kinder können bei einem Erwachsenen, der nichts mit der Schule zu tun hat, auch mal Dampf ablassen und finden ein offenes Ohr für ihre Sorgen.

Anke Abel, didaktische Leiterin an der Sekundarschule, sagt: "Die Kinder schätzen die Aufmerksamkeit. Sie freuen sich, dass jemand nur für sie kommt." Und auch die Mentoren können dabei noch etwas lernen. So bekommen sie oft Einblicke in die familiäre Situation der Schüler und stehen ihnen bei Problemen zur Seite.

Das bringt auch eine große Verantwortung mit sich. Für Dirk Clauberg ist es faszinierend, wie unterschiedlich die Schüler sind. "Vor allem ist es schön zu sehen, wie die Kinder sich im Laufe der Jahre entwickeln. Wir werden mit ihnen älter und bleiben durch sie gleichzeitig jung."

Mit seiner Behinderung sind die Schüler von Anfang an respektvoll umgegangen. "Ich hatte keinen dabei, der im Sozialverhalten nicht eine Note sehr gut verdient hätte. Kinder sind einfach noch sehr offen und haben nicht so große Hemmschwellen", hat Clauberg festgestellt.

(RP)
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