Solingen Die unendliche Weite der Phantasie

Solingen · Das Zentrum für verfolgte Künste entdeckt in einer Ausstellung das vergessene malerische Werk von Ringelnatz.

Es ist eine kleine Sensation, mit der Dr. Rolf Jessewitsch, Direktor des Zentrums für verfolgte Künste, das Publikum überrascht. "Diese Ausstellung, die bereits jetzt bundesweite Presse-Resonanz hervorruft, eröffnet den Blick auf das künstlerische Gesamtwerk von Joachim Ringelnatz, der als kauziger Dichter schräger Reime bis heute unvergessen ist, dessen malerisches Werk allerdings im Gegensatz zu seinen Gedichten fast völlig aus dem Blickfeld geraten ist." Auslöser für die Retrospektive, erläutert Kurator Jürgen Kaumkötter, war Hilmar Klutes neue Ringelnatz-Biografie "War einmal ein Bumerang". Klute, Journalist und Co-Kurator der Ausstellung, setzt einen neuen Akzent in das gängige Ringelnatz-Verständnis. Er zeigt nicht den kalauernden, sondern den ernsthaften Dichter, dessen Leben sowohl das Elend als auch den Glanz deutscher Vergangenheit spiegelt. "Parallel dazu präsentiert diese erste Werkschau den hervorragenden Maler Ringelnatz", ergänzt Kaumkötter.

Geboren 1883 in Wurzen bei Leipzig als Hans Gustav Bötticher, wächst Ringelnatz, wie er sich später nennt, in einem künstlerisch orientierten bürgerlichen Elternhaus auf. Seine Schulzeit ist wenig erfolgreich, er fliegt vom Gymnasium. 1901 zieht es ihn zur See. Als Schiffsjunge und Leichtmatrose bereist er alle Weltmeere und übt allerlei Nebenjobs an Land aus. Es folgen erste kabarettistische Auftritte in der Münchner Künstlerkneipe Simplizissimus und Veröffentlichungen in der gleichnamigen Zeitschrift. Im Ersten Weltkrieg meldet er sich zur Marine, überlebt die düstere Kriegszeit, heiratet 1920 Leonharda Pieper, die er fortan "Muschelkalk" nennt und die ihm bei seinen Publikationen und Auftritten als Vortragskünstler assistiert. Die Goldenen Zwanziger in Berlin bringen Ringelnatz Popularität. Er reist viel durch Europa und widmet sich parallel intensiv der Malerei.

Schon 1923 zeigt er mit großem Erfolg 58 Bilder in der Galerie Flechtheim in Berlin, stellt mit bekannten Künstlern wie Otto Dix und George Grosz aus, verkehrt in den Künstlerkreisen von Berlin und bezeichnet sich selbst stolz als "Kunstmaler". Die Machtübernahme Hitlers setzt all dem ein Ende. Ringelnatz erhält Auftrittsverbot, seine Bücher werden verbrannt, seine Bilder als entartet diffamiert. 1934 stirbt der Künstler verarmt an Tuberkulose. Während seine Bücher bis heute in hoher Auflage publiziert werden, schon 1935 gibt es eine durchgesehene Neuauflage bei Rowohlt, gerät seine Malerei nach und nach in Vergessenheit. "Ringelnatz Gesamtwerk zählt 138 Ölbilder, alle zwischen 1925 und 1933 entstanden." Davon hat das Museum 50 Originale zusammengetragen.

Demgegenüber stehen bis heute verschollene Bilder, die nur mittels der alten Fotos rekonstruierbar sind und in dieser Ausstellung erstmalig den original erhaltenen Werken per Großprojektion und Fotorekonstruktion gegenübergestellt werden. Die Präsentation der Bilder insgesamt ist gelungen. Die Museumswände sind in zartem Grau und satten Blau gestrichen, was die Farbigkeit der Bildtafeln intensiviert. Geordnet sind die Werke nach Stichworten: Die unendliche Weite der Phantasie, Einsamkeit, Die Welt von oben, Exotik und Zweisamkeit. Sind die frühesten Werke - wie beispielsweise "Der Dachgarten der Irrsinnigen" von 1925 - noch von der illustrativen Arbeit des Illustrators geprägt, hat Ringelnatz schon zwei Jahre später beim Werk "Nach der Schlacht" eine fast abstrakte Malweise, die die Gegenstände aufzulösen scheint und die Farbmaterie nutzt, um mit hoher Ausdruckskraft die Stimmung in der tobenden See zu veranschaulichen.

Einige Bilder mit winzigen Figuren vor tiefem Horizont wie das "Gestrandete Schiff" (1927) lassen an Caspar David Friedrich denken. Wie bei Friedrich spürt man die Ohnmacht des Menschen gegenüber der übermächtigen Natur. Andere Bilder wie "Die Schneelandschaft" sind atmosphärisch angelegt und verbildlichen Seelenzustände von hoher Empfindungskraft. Deutlich wird, dass Ringelnatz Malerei wenig mit seiner kabarettistischen, lauten und provokativen Vortragskunst gemein hat, sondern dass hier eine andere Seite des Menschen Ringelnatz anklingt: Der empfindsam Registrierende und symbolhaft Vorausschauende, wie in dem Werk "Heimweg im Nebel" von 1933 deutlich wird, in der er eine düstere Vision der Zukunft gibt. In Ergänzung zeigt das Museum in der literarischen Abteilung alle Erstausgaben und Widmungsausgaben des schriftstellerischen Werks von Ringelnatz aus der Sammlung Wassermeyer.

(RP)
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