Solingen Auf der Suche nach der eigenen Heimat

Solingen · Morgen eröffnet das Zentrum für verfolgte Künste die Literaturausstellung "Verliebt in die deutsche Sprache".

Während der schick herausgeputzte Junge mit wachen Augen in die Kamera blickt, umklammert er eine Schultüte, die ihm fast bis zu den Schultern hinaufreicht. Am Tag, an dem dieses Foto entstand, dürfte der Spross aus wohlhabendem Hause wohl kaum geahnt haben, welch tiefgreifende Wendung sein Leben nehmen würde. "Für Edgar Hilsenrath wurde die Schule zu einer Qual", berichtet Helmut Braun, Kurator jener Sonderausstellung, die das Zentrum für verfolgte Künste ab morgen im Ratssaal des Kunstmuseums zeigt. "Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath" zeichnet das Leben und Werk des Schriftstellers anlässlich seines baldigen 90. Geburtstages nach.

Am 2. April 1926 in Leipzig geboren, sah sich Hilsenrath schon als Kind dem Rassenwahn der Nationalsozialisten ausgesetzt. Der Sohn einer jüdischen Familie wurde von Lehrern und Mitschülern drangsaliert, sein Vater musste sein Möbelgeschäft aufgeben und bemühte sich vergeblich um ein Visum für die USA. Das Familienoberhaupt tauchte schließlich in Frankreich unter, während der junge Edgar mit seiner Mutter und seinem Bruder in die rumänische Stadt Siret floh, wo sein erster Roman "Der weiße Neger" entstand.

Doch statt der erhofften Sicherheit erwartete sie die Deportation ins ukrainische Ghetto Moghilev-Podolsk, in dem zehntausende Bewohner an Hunger und Seuchen starben. Edgar Hilsenrath und seine Familie gehörten zu den Überlebenden, doch der junge Schriftsteller blieb ein Heimatloser: Er wanderte nach Palästina aus, aber in der reglementierten Welt des Kibbuz wurde er nicht glücklich - ebenso wenig wie in New York. Er sehnte sich nach seiner Muttersprache und kehrte schließlich nach Deutschland zurück.

Die Ausstellung ist eine Dauerleihgabe der Akademie der Künste Berlin und soll als Wanderausstellung auch in anderen Städten gezeigt werden. Helmut Braun bringt den Besuchern Hilsenraths beeindruckenden Werdegang anhand von vielen Fotos, Manuskripten und verschiedenen privaten Dokumenten aus dessen Vorlass nahe. Die Lebenswege des Schriftstellers und des Kurators kreuzten sich bereits vor 40 Jahren, als Braun eines der bekanntesten Werke Hilsenraths in Deutschland verlegte. Die bissige Satire "Der Nazi und der Frisör" beschreibt das Leben eines Mannes, der erst zum SS-Massenmörder wird, um später auf der Flucht vor der Bestrafung nach Palästina auszuwandern und schließlich gar für eine jüdische Untergrundarmee gegen die britischen Mandatsmacht zu kämpfen. "Das war ein ganz großer Wurf, eine Groteske, die er auf die Spitze getrieben hat", sagt Braun. Viele Verlage hatten sich zuvor nicht getraut, den Roman zu veröffentlichen - offenbar aus Unsicherheit, weil Hilsenrath die Geschichte aus der Perspektive eines Täters erzählte und dabei auch die politisch korrekte Darstellung des Judentums genüsslich durch den Wolf drehte.

Ausgaben des Buches in mehreren Sprachen sind Teil der Ausstellung - ebenso wie Hilsenraths Werk "Das Märchen vom letzten Gedanken", das sich mit dem Völkermord an den Armeniern befasst. Ergänzt wird die Schau, die im Zentrum für verfolgte Künste Judith Schönwiesner betreut, durch Audiostationen mit Raritäten des Künstlers.

(RP)
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